Flucht über den Himalaya
längst verschwunden ist. Läßt Amala den Vater jetzt ins Haus, wird es nichts mit der coolen Disco-Musik. Bleibt Ama jedoch hart, wird Vaters Gejammer die Nachbarn aus dem Schlaf holen. Und dann wissen morgen alle Bescheid: die alten Großmütterchen und Großväterchen, die in der Sonne ihre Gebetsketten durch die krum men Finger laufen lassen; die jungen Männer, die arbeitslos vor den Teestuben hocken; die überhebliche Besitzerin des Telefonladens; der dicke Moslem, der das Fleisch samt Maden auf die Waage wirft; der zahnlose Süßigkeitenverkäufer; der freundliche Busfahrer; die Kinder in der Klasse und die Lehrer in der Schule.
»Mach endlich auf, Dekyi!!!« Fluchend tritt der Vater gegen die Tür.
Gleich wird er toben.
Dann wird er drohen.
Dann wird er weinen.
Und schließlich in Selbstmitleid zerfließen. Seine Stimme klingt dann so jämmerlich, daß man meint, er würde gleich durch die enge Ritze der Tür in die Stube rinnen – eine kleine Lache mit dem Blick eines geprügelten Hundes.
Das ist der Moment, in dem Ama zu schwanken beginnt. Schon steht sie an der Tür, den müden Kopf an das schwere Holz gelehnt.
»Ich werde mich bessern, Dekyi.«
»Das reicht mir nicht. Sag, was du ändern wirst.«
»Ich werde mit dem Trinken und dem Huren aufhören.«
»Und dem Spielen.«
»Und dem Spielen.«
»Sag, daß du mit dem Spielen aufhören wirst.«
»Ich werde mit dem Spielen aufhören, Dekyi.«
»Schwöre es.«
»Ich schwöre es bei allen unseren Göttern.«
»Wie kannst du bei unseren Göttern schwören, wenn nichts mehr an dir tibetisch ist?«
Für eine kleine Weile wird der Vater still. Dann flüstert er: »Ich bin so tief gefallen, Dekyi. Hilf mir, wieder auf die Beine zu kommen. Ich liebe dich. Und die Kinder. Tu es für sie.«
Die Mutter dreht sich zu den Mädchen um: Frierend hocken sie auf der Bettkante und lassen ihre nackten Füße in die Nacht baumeln.
Als Ama am nächsten Abend an ihrem Webstuhl sitzt und Vater in die Küche schleicht, folgt Dolker heimlich dem Dieb. Leise öffnet er den Schrank, in dem die Drachentasse Amas Ersparnisse für Chimes Radiorekorder hütet.
»Amala!« ruft Dolker und rüttelt wütend am Ärmel von Paalas Anzugjacke. Die Mutter kommt, und der Enttäuschung in ihrem Blick schleudert der Vater nur seine Vorwürfe entgegen: »Jetzt hast du’s geschafft, daß sogar die Kinder mich hassen!«
»Laß das Geld«, sagt die Mutter.
»Sei nicht kindisch. Ich bringe dir morgen das Zehnfache wieder!«
Als der Vater Amas Ersparnisse in seine Hosentasche schiebt, wird Dolker richtig böse. Sie packt seine Hand und beißt hinein. Daß dies kein Vater mehr ist, vor dem man Respekt haben muß, hat sie begriffen, als er heute nacht vor ihrer Tür winselte. Der Vater – immer noch die Tasse in der Hand – schlägt zu. Verwundert hebt Dolker den Kopf, greift vorsichtig in ihr kurzes, schwarzes Haar. Ihre Augen werden weit, als warmes Blut an ihren Fingern klebt.
In Scherben liegt sie auf dem Boden: die Tasse aus Xining.
Ladakh, im Sommer 1998
Heute noch schließe ich, wenn ich erschöpft von Alltag, Beruf und Familie bin, die Augen und stelle mir vor, auf dem Dach eines ladakhischen Klosters zu stehen, die Arme auszubreiten, abzuheben und als Lichtwesen über der grenzenlosen Weite der Landschaft zu fliegen. Auf unserer Bergtour ging es freilich trivialer zu: Es gab Pferde für unsere Rucksäcke und Pferdeführer, die darauf achteten, daß sie unser Gepäck auch auf den richtigen Gipfel brachten. Es gab einen wunderbaren Koch, der unseren irdischen Hunger stillte, und zwei junge Bergführer, deren Aufgabe es war, die Gruppe mit Gesängen, Witzen und romantischen Lagerfeuern bei Laune zu halten. Abends bauten sie unsere Zelte auf und morgens weckten sie uns mit warmem Milchkaffee. Als wir aus der kargen Mondlandschaft wieder in das üppige Grün der Täler hinunterstiegen, waren Andrea und ich uns einig: Das war die unsportlichste und schönste Bergtour unseres Lebens.
Am Tag vor unserer Rückreise nach Deutschland besuchen wir noch einmal das Tibetische Kinderdorf. Tsering hat uns zur Generalprobe einer großen Schulaufführung eingeladen, die zu Ehren des Dalai Lama abgehalten wird. Das Flugzeug des Dalai Lama soll genau dann seinen Anflug auf Leh nehmen, wenn Andrea und ich wieder nach Delhi zurückfliegen. Ich stelle mir vor, wie unsere Maschinen aneinander vorbeischweben und ich Seiner Heiligkeit von meinem Fensterplatz aus zuwinke. Und er grüßt zurück
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