Flucht über den Himalaya
– ein freundlicher, älterer Herr mit einer eckigen Krankenkassenbrille, ein Gottkönig über den Wolken. Auf alle Fälle hat er am 6. Juli Geburtstag, und den will der ›freundliche ältere Herr‹ mit den tibetischen Kindern von Choglamsar verbringen.
O meine Landsleute! Ihr tapferen Männer und Frauen!
Mögen die Tibeter durch das Mitgefühl unseres Tausendarmigen Buddhas
die Freiheit, die uns rechtmäßig zusteht, wiedererlangen.
… singt der Chor des Kinderdorfes in der riesigen Veranstaltungshalle. Und auch wenn sie ihre Stimmen während der Generalprobe schonen, schlägt die Pegelanzeige meines Sonys in alle Richtungen aus. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, und Andrea stehen die Tränen in den Augen. Kein deutscher Schulchor wäre je in der Lage, ein Heimatlied mit solch rührender Begeisterung zu singen.
An diesem zehnten Tag im März,
dem Tag des tibetischen Volksaufstandes,
opferten Zehntausende Tibeter ihr Leben für die Freiheit.
Mönche, Nonnen, Männer, Frauen und Kinder.
Meine Brüder und Schwestern in Tibet
mußten unter größter Brutalität leiden.
Aber mit unerschrockenem und standhaftem Mut
kämpften sie alle für die Freiheit.
Euch gilt meine Bewunderung.
In Gedanken an Eure Taten
verneige ich mich in Demut vor Euch.
Das hier spiegelt die Kraft eines Volkes wider, das im Exil eine neue Identität finden mußte.
Jenseits des Himalaya droht Tibet der Untergang. Diesseits des Himalaya scheint es sich mit großer Empathie wieder aufzurichten.
Tibeter in Tibet und außerhalb unserer drei Provinzen,
vereinigt Euch!
Und schreitet voran im Kampffür unsere Freiheit!
Der Kinderchor verläßt den großen Saal. Als letzter ein schmächtiger Junge mit Krücken. Ihm fehlt ein Bein. Noch lange ist das Klappern seiner Krücken draußen auf dem Betonweg zu hören.
»Er ist auf seiner Flucht über die Berge in einen Schneesturm geraten. Als er im Flüchtlingslager von Kathmandu ankam, waren seine Erfrierungen schon so weit fortgeschritten, daß das Bein amputiert werden mußte«, erzählt uns Tsering, als wir im Abendlicht über den ausgedehnten Schulhof schlendern.
»Was ist eigentlich deine Geschichte, Tsering?«
»Meine Eltern sind noch vor meiner Geburt nach Indien geflohen.«
»Das heißt, du hast Tibet nie gesehen?«
»Doch. Einmal. Ich war achtzehn Jahre alt und hatte Heimweh nach der Heimat, die ich nicht kannte. Da habe ich meinen Rucksack gepackt und bin zu Fuß über die ›weiße Grenze‹ hineingegangen – um wenigstens einmal einen Blick in mein Mutterland zu werfen.«
Als wir uns verabschieden, brennt noch diese allerletzte Frage:
»Tsering, glaubst du wirklich, daß Tibet einmal frei sein wird? Oder haltet ihr euch an diesem Glauben nur fest?«
»Der Dalai Lama hat einmal gesagt: Solange der Wind des Bösen auch weht, er kann die Flamme der Wahrheit nicht löschen. Daran glaube ich.«
Seine Heiligkeit startete offenbar mit Verspätung aus Delhi, denn sein Flieger taucht nirgendwo im grauen Wolkenmeer auf. Mit unseren weißen Khatas, den tibetischen Glücksschärpen, die wir zum Abschied geschenkt bekommen haben, fühle ich mich trotzdem beschützt. Während der vier Wochen unserer ersten Himalaya-Reise haben wir viele Freundschaften geschlossen. Und daß Andrea nach dieser langen Zeit immer noch meine Freundin ist, erfüllt mich mit großer Dankbarkeit. Denn ich war keine angenehme Reisegefährtin mit meiner ständigen Bereitschaft, mich in irgend jemanden zu verlieben: in Fabrizio, den rothaarigen Italiener, der hinduistische Gottheiten malt; in Olivier, den dunkelhäutigen Inder, der an seiner Verwandlung in Licht arbeitet; und schließlich in Majid, den süßen Ladakhi aus dem Telefonladen, von dem aus ich meine Oma in Österreich angerufen habe. Und vielleicht auch ein bißchen in Tsering.
»Es ist verrückt, daß die Welt nichts von den Tragödien weiß, die sich da oben im Himalaya abspielen«, sagt Andrea, als uns die schweren Monsunwolken schließlich ganz verschlingen.
»Ja«, sage ich, »wir müssen das ganz vielen Leuten erzählen.«
Dann schlafe ich ein. Und als ich kurz vor unserem Landeanflug auf Delhi wach werde, weiß ich endlich, was ich aus meinem Leben machen will: »Ich werde einen Film über so eine Flucht machen. Wenn Tsering illegal nach Tibet reingekommen ist, schaffe ich das auch.«
»Wie, einen Film?«
»Eine Dokumentation über einen Kindertreck. Das wäre doch irre, so was mit der Kamera zu begleiten! Dann würden das
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