Flucht über den Himalaya
kennzeichnen oft den höchsten Punkt eines Berges oder Passes.
Die letzten Schritte auf dem Boden meiner Heimat, denkt Lobsang und beginnt zu zählen: Eins … zwei … drei … vier …
Wo steckt Pema? – Wäre er gesund, würde Nima vorgehen, um auf dem Paß die Lage zu checken. Manchmal verstecken sich da oben chinesische Scharfschützen. Doch über dem Paß türmen sich die ersten dunklen Wolken auf. Es wäre ungünstig, in dieser Höhe von einem Wetterumschwung erfaßt zu werden. Sie müssen weiter. Egal, ob auf dem Paß die Freiheit oder ihr Verderben wartet.
»Ich glaube, ich kann wieder gehen«, flüstert Dolker. Doch Suja hört nur noch das Keuchen seines Atems. Die Arme des Kindes um seinen Hals sind die Flügel, die ihn auf diesen letzten Metern tragen.
Siebenundachtzig … achtundachtzig … neunundachtzig … Wie viele Schritte sind es noch bis in ihr neues Leben?
»Hujaaaaaaa!« Mit einem Aufschrei des Triumphes erreicht Suja als erster den Paß. Keine Gewehrsalve zerreißt die Stille der weiß gedeckten Landschaft. Nur die Gebetsfahnen flattern unruhig im Wind. Viele sind längst ausgebleicht von der Sonne. Behutsam läßt Suja sein Seelchen vom Rücken herab.
»Hujaaaa!« ruft auch Dolker und fühlt sich plötzlich ganz leicht vor Freude.
Wo ist der Grenzstein? Wahrscheinlich liegt er hier irgendwo unter der dicken Decke aus Schnee. Es gibt keine Grenze hier oben, nur grenzenlose Freiheit, denkt Suja und ruft laut »Rangzen!« hinunter zu den Kameraden.
»Rangzen!« rufen sie zurück. »Freiheit!«
Als zweiter erreicht der junge Student den Paß. Erschöpft läßt er sich auf die Knie fallen. Dann greift er in den Schnee und wirft zwei Hände voll davon in die Luft. Millionen kleiner Glückskristalle rieseln auf sein strahlendes Gesicht herab.
Erschöpft sinkt Lobsang in Sujas Arme.
Die Kinder sind fasziniert von dem bunten Gewirr Hunderter Fahnen. Und Tempas Wut auf Suja fliegt wie ein Schwarm Vögel in den fernen Süden. Jetzt ist er froh, auf den Paß hochgetrieben worden zu sein.
Die Enttäuschung darüber, daß sein Freund Pema nicht gekommen ist, dämpft Nimas Euphorie. Doch die Flüchtlinge haben ihre Fäustlinge ausgezogen und strecken ihm, der als letzter die Paßhöhe erreicht, ihre nackten Hände entgegen: Trotz Krankheit und Schmerzen hat der Guide ihnen den Weg in die Freiheit gezeigt.
»Rangzen!«
Vorsichtig packt Chime die Windpferde, die Ama ihnen mit auf den Weg gegeben hatte, aus dem Rucksack. Lobsang hilft ihr, die lange Leine, an der die bunten Fahnen hängen, zwischen die anderen Gebetsfahnen zu spannen.
Mit Tränen in den Augen beobachtet Dolker, wie der Wind nach Amas bunten Fähnlein greift. »So wie der Wind die Gebete ins Universum trägt, so wird er für immer meine Gedanken zu euch nach Indien tragen«, hatte Ama gesagt, als sie den Rucksack für ihre Kinder packte.
Die weiße Khata, auf der Amas Name und der ihrer Großmutter geschrieben stehen, bindet Chime zwischen die grüne und die rote Fahne. Denn Grün ist die Lieblingsfarbe ihrer Mutter und Rot war die Farbe des Glücksdrachens, der ihre Kindheit beschützte. Dann greift sie nach der Hand der kleinen Schwester: »Du mußt dir jetzt was wünschen.«
»Ich möchte bei Ama sein.«
»Das geht nicht. Wir sollten uns besser wünschen, daß wir nie vergessen, wie Ama aussieht.«
Plötzlich wirbeln Dutzende von kleinen Zetteln durch die Luft. Vom Wind erfaßt fliegen sie weit hinaus in den tiefblauen Himmel ihrer Heimat zurück. Es ist Lobsang, der die geweihten Papierchen, auf denen verschiedene Gebete gedruckt sind, wie Brieftauben nach Tibet entsendet. Für einen kurzen Moment schließt er die Augen und betet für all die Menschen, die er mit seinem nächsten Schritt – dem einhundertdreiundsiebzigsten – für immer verlassen wird.
Aus Nepal meldet sich dumpf das Grollen eines Unwetters. Es bleibt nicht viel Zeit, Abschied zu nehmen. Ein letzter Blick hinab in die Heimat. Ein letzter wehmütiger Gruß.
Mit riesigen Buchstaben schreibt Suja chinesische Schriftzeichen in den Schnee:
Good bye, China. Ich bin weg. Für immer.
Die Begegnung
Stimmen. Von weiter oben. Wir drücken uns flach in den Schnee und lauschen. Der Nebel verdeckt die Sicht auf die Paßhöhe. Träge wälzt er sich von den Bergen herab.
Die Stimmen rücken näher, und meine Angst rutscht tiefer, verkriecht sich in mein rechtes Knie, das zu zittern beginnt. Sind es Flüchtlinge? Ein chinesischer Suchtrupp? Oder
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