Flucht über den Himalaya
gebe ich ihrem Guide Geld für Proviant und ›Bakschisch‹ – falls sie auf dem Weg nach Kathmandu von nepalesischen Soldaten erwischt werden. Und unsere letzten Medikamente.
Der Paß
» Wir gingen zusammen, wir aßen zusammen, wir schliefen zusammen und wir hielten zusammen. Mir wurde geholfen – von fast jedem in der Gruppe. Manchmal weinte ich, wenn ich meine Eltern vermißte, aber dann ging ich weiter mit dem größfStrahlung zu scten Herzen, das ich haben konnte. Ich meine, ich war wirklich mutig! «
DHONDUP
Ihren Kochtopf, die Taschenlampen, den leeren Wasserkanister, die Pullover zum Wechseln – alles, was sie von nun an nicht mehr unbedingt brauchen, haben die Flüchtlinge an den Steinhäuschen zurückgelassen. Ihre Gesichter cremten sie mit einer Paste aus Yakfett ein, um die Haut vor der hohen UV-Strahlung zu schützen. Currasco hat Lobsang sein zweites Paar Socken geschenkt, damit er sie gegen die Kälte über seine Hände stülpen kann.
Der Aufbruch war noch turbulent gewesen, denn Little Pema hatte wieder schlecht geträumt. Zum Glück haben sie die letzten Tage nicht viel getrunken, so konnte wenigstens Dhondup trocken bleiben. Den gelben Fleeceanzug, den Little Pemas Mutter ihr zum Wechseln eingepackt hatte, wollte das Kind nicht anziehen. Und so mußte Dolker ihre abgewetzten Hosen an Little Pema abtreten und durfte dafür in den schönen Anzug aus Fleece schlüpfen. Er hat ein ausgestelltes Röckchen und Stickereien an der Brust. Es bleibt ein Rätsel, was Little Pema an ihm auszusetzen hat.
Dieses Kind ist unergründlich wie die Gletscherspalten, die hier überall unter der Schneedecke lauern, denkt Suja. Mit seinen dünnen Sportschuhen tritt er feste Spuren in den Firn für die Kinder und Männer, die folgen. Nima hält sich dicht hinter dem Freund und leitet ihn durch die verwirrende Weite der Landschaft. Die lange Nachtruhe hat dem Guide gutgetan. Das Fieber ist gesunken, und auch die Schmerzen haben etwas nachgelassen.
Der Weg ist leicht ansteigend, nur langsam gewinnen sie an Höhe. Seit vierundzwanzig Stunden haben sie nichts mehr gegessen, und die Erschöpfung der letzten Tage sitzt tief in ihren Knochen. Das gleißende Licht des Schnees ermüdet die Augen. Unendlich durstig machen Sonne und Höhe. Sie halten an, um ihre dunklen Brillen aus den Rucksäcken zu holen.
Dolker klagt über Kopfschmerzen.
»Das geht vorbei, wenn du für eine Weile deine Augen schließt«, sagt Suja und nimmt sein Seelchen auf den Rücken.
Es dauert nicht lange, da will auch Little Pema getragen werden. Doch keiner von den übrigen Männern hat jetzt noch Kraft für ein zusätzliches Gewicht.
Ich habe niemanden, der sich um mich kümmert, denkt Little Pema frustriert. Sie fühlt sich wieder schlecht. Von niemandem geliebt, von ihrer Ama im Stich gelassen und auch von Suja. Auch wenn sie seine Khampa-Prinzessin ist, Dolker wird er immer lieber mögen.
Dhondup hat ganz andere Sorgen. Heute morgen ist er mit einer Frage aufgewacht, auf die er keine Antwort findet: Warum war Paala so dumm, bei ihrem letzten Kartenspiel die Piksieben aufzudecken? Paala ist der beste Kartenspieler in der Familie! Dhondup ist zwar ein starker Gegner, doch so einfach war es noch nie gewesen, Paala zu schlagen. Irgend etwas an seinem letzten Sieg über den Vater stimmt Dhondup unzufrieden. Er möchte das Spiel wiederholen, aber das geht nicht. Wütend setzt er einen Schritt vor den anderen.
Dolker ist auf Sujas Rücken eingeschlafen. Egal, wohin sie gehen, er wird nie mehr von ihrer Seite weichen. Er weiß, wie schnell man seine Kindheit an schlechte Menschen verlieren kann. Er wird das Seelchen beschützen. Sein Leben lang.
»Haltet mal!« ruft Currasco nach vorne an die Spitze des Zuges. Tempa ist zurückgeblieben. Nach ihrer letzten Rast wollte er unbedingt das Schlußlicht sein – offenbar, um sich unauffällig von der Gruppe abzusetzen.
»Verdammt, der will nicht mehr«, murmelt Suja und vertraut dem Guide sein schlafendes Seelchen an. Dann stapft er Currasco und Yeti hinterher, die bereits unterwegs zu dem erschöpften Kameraden sind.
Wenn sie Tempa tatsächlich im Schnee zurücklassen müssen, wäre das ein Zeichen für Nima, seinen Job an den Nagel zu hängen. Diese Abmachung hat er mit sich vor seinem allerersten Grenzgang getroffen: Sobald die Götter nicht mehr mit ihm sind, wird er aufhören, Flüchtlinge ins Exil zu bringen.
Die drei Männer haben Tempa erreicht, der auf dem Rücken im Schnee liegt. Er
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