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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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nepalesisches Militär? Ich kann Tamdings Atem hören. Den ganzen Aufstieg über hielt sich der kleine Junge mit dem grünen Maomantel dicht bei mir. Fragend schaue ich zu Pema. Der macht uns Zeichen zu warten. Dann schleicht er weiter. Immer wieder sucht er Deckung hinter den Felsen, die aus dem Schnee ragen.
    Ich halte mein Knie fest. Es fühlt sich an, als wolle es aus dem Gelenk springen. Jörg und Richy bleiben ruhig. Wahrscheinlich ist es die Erschöpfung. Seit dem frühen Morgen sind wir über riesige Eisfelder, Felsabbrüche und Moränen gewandert. Daß sie die Höhe ohne ausgiebige Akklimatisierungsphase so gut verkraften, hat sicher mit der Aufregung zu tun, die uns in permanenter Spannung hält.
    Da sind sie wieder, die Stimmen. Nicht nur tiefe Männerstimmen, sondern auch die hellen Stimmen kleiner Kinder! Oder täusche ich mich? Ist mein ›Kinderwunsch‹ so groß und die Luft so dünn, daß ich zu phantasieren beginne?
    »Pugu«, flüstert Tamding, »Kinder.«
    Jetzt erhebt sich Pema aus dem Schnee und ruft etwas zu den Leuten hinauf.
    Kurze Stille. Dann bricht oben Jubel aus. Höchste Zeit, unser Kamera-Equipment auszupacken.
    Tamding schaut mich fragend an. Lauf! deute ich ihm, lauf rauf zu den anderen Kindern!
    Darauf hat Tamding nur gewartet. Er spurtet los in Richtung der Stimmen, bis auch ihn der Nebel verschluckt. Richy fragt nach der Uhrzeit.
    »Bald fünf!« ruft Jörg.
    »Mist. Dann ist das Licht gleich weg.«
    Mit schnellen, aber konzentrierten Bewegungen macht Richy seine Kamera startklar, während ich mit zittrigen Fingern mein Ton-Equipment zusammenschraube. Die Schutzhülle des Mikrophons überziehe ich mit einem wuscheligen Kunstfell, damit mir der starke Wind nicht die Atmo zerbläst. Die schweren Rucksäcke lassen wir mit unserem Sherpa Kelsang zurück und stapfen los. Mein Knie spinnt immer noch. Ich bin viel zu aufgeregt. Zum Glück bewahrt Richy die Nerven. Kein Wunder: Wer bereits Madonna und Tom Cruise vor der Linse gehabt hat, ist cool genug für jedes Abenteuer.
    Zwischen den mannshohen Felsen im Schnee ist es schwierig, die grauen Gestalten der Flüchtlinge auszumachen. Hie und da bewegt sich ein ›Stein‹ in unsere Richtung. Dann wissen wir, daß es sich um einen Menschen handelt. Als Pema vor Freude plötzlich zu jauchzen beginnt und sich im Schnee fast überschlägt, ist klar, daß es Nimas Gruppe ist.
    »Bleib stehen, Pema! Und sag denen da oben, daß sie auf uns warten sollen!« brüllt Richy.
    Die ganze Situation muß für die Flüchtlinge seltsam sein. Sie haben ja keine Ahnung, daß wir einen Film über sie machen wollen. Wie werden sie auf unsere Kamera reagieren?
    Normalerweise erklärt man den Protagonisten einer Dokumentation vor jeder Aufnahme, daß sie nicht in die Kamera schauen sollen. »Verhalten Sie sich so natürlich wie möglich!« würde man als Regisseurin sagen, oder: »Blenden Sie uns einfach aus, wir sind gar nicht da!« Doch wir haben keine Zeit für Erklärungen. Das Tageslicht beginnt allmählich trüb zu werden. Ich fahre meine Tonstange aus und stapfe hinter Richy her. Längst blinkt der rote Knopf an seiner Kamera. Er ist bereits auf Aufnahme.
    Wie groß die Gruppe ist, läßt sich schwer abschätzen. Zunächst bewegen sich drei vermummte Gestalten auf Pema zu. Sie stecken bis zum Bauch im weichen Schnee und rudern mit den Armen, als suchten sie irgendwo Halt.
    Jetzt entdecke ich auch Tamding wieder. Er ist auf einen großen Stein geklettert und winkt den Leuten zu. Wahrscheinlich erklärt er ihnen, was hier passiert. Unser kleiner Strahlemann macht seinen Job gut, denn als wir endlich bei den Flüchtlingen angelangt sind, scheint niemand irritiert über unsere Kamera-Ausrüstung zu sein.
    Die drei Männer strecken Pema zur Begrüßung ihre Arme entgegen. Als sie auseinanderdriften, entdecke ich noch einen weiteren Mann, der eine schwere Last auf dem Rücken trägt. Es ist kein Rucksack – das ist der leuchtendrote Anorak eines Kindes!
    Es trägt eine riesige Damensonnenbrille mit hellblauem Gestell, doch sein Gesicht ist eindeutig das eines Jungen. Seine vollen Lippen sind verkrustet und an vielen Stellen aufgesprungen. Wahrscheinlich ist er dehydriert und bräuchte dringend was zu trinken! Er wirkt etwas apathisch, als hätte er lange nicht mehr geschlafen. Der Mann, der ihn trägt, hat ein buntes Stirnband auf dem Kopf, und als er uns mit einem Lachen begrüßt, blitzt uns ein goldener Zahn entgegen.
    Von oben kommen noch mehr Leute nach.

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