Flucht über den Himalaya
langsam.«
»Was willst du jetzt tun?«
»Medikamente verteilen.«
Die meisten Männer haben einen schweren Husten oder entzündete Augen, weil sie keine Sonnenbrillen gegen die gleißende Helligkeit des Schnees dabeihatten. Einige beutelt das Fieber, andere haben Kopfweh. Ein Mönch leidet unter schrecklichen Zahnschmerzen. Sein Blick ist schon ganz irre. Nur dem kleinen Tamding scheint der Marsch nicht wirklich zugesetzt zu haben. Dieses Kind ist unglaublich. Er bleibt immer dicht bei mir, und wenn ich mich zu ihm umdrehe, strahlt er mich an.
Ich verteile jede Menge Aspirin, Augentropfen, Schmerztabletten und für jene, die stark fiebern, Antibiotika. Es macht mir Freude, großzügig zu sein. Vielleicht war das der Sinn unserer langen Wanderung: fünfunddreißig erschöpfte Mönche aufzupäppeln und zu verarzten. Ich weiß zwar nicht, ob das den ZDF-Redakteuren reicht, aber darüber werde ich morgen nachdenken. Denn mittlerweile ist es stockfinster. Die Männer haben Decken und Plastikplanen aus ihren Rucksäcken geholt und richten sich ein Schlaflager ein. Tamding darf zu Jörg und mir ins Zelt. Zu dritt teilen wir uns zwei Schlafsäcke, Tamding liegt zwischen uns. Die Nähe des Kleinen tröstet mich über die Tatsache hinweg, ein ernsthaftes Problem zu haben. Ich glaube, er grinst sogar im Schlaf.
Am nächsten Morgen bin ich schon sehr früh wach. Die dünne Höhenluft wirkt wie Koffein auf mich, ich brauche kaum Schlaf. Ich muß mit Pema reden. Auch er ist bereits wach, als ich leise den Reißverschluß an meinem Zelt öffne. Eingehüllt in seine dicke Felljacke, sitzt er rauchend auf einem Stein und beobachtet den klaren Morgenhimmel. Ich setze mich zu ihm. Schweigend warten wir auf die Sonne. Als der erste rote Strahl hinter den Bergen aufblitzt, sage ich es: »Pema, wir können nicht mit diesen Mönchen drehen. Mein Auftrag ist, einen Film über tibetische Flüchtlingskinder zu machen.«
»Ich weiß«, sagt Pema und zündet sich mit seiner Kippe gleich die nächste Zigarette an. »Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen.«
»Was?«
Er deutet auf die schlafenden Mönche: »Das hier ist nicht unsere Gruppe. Der Guide ist auch nicht Nima. Aber er kennt ihn.«
»Und was ist mit Nima?«
»Er ist mit seiner Gruppe ein paar Stunden vor den Mönchen aus Lhasa aufgebrochen. Der Guide hier hat Nima und seine Leute zuletzt in Gyantse gesehen. Kann sein, daß sie auf dem Weg in die Berge in eine Straßensperre geraten sind.«
Das ist die zweite Gruppe, die vom Erdboden verschwunden ist. Es ist nicht auszuhalten! Als ich in Tränen ausbreche, nimmt Pema mich in die Arme.
»Zazie-la, du bist nicht schuld. Verstehst du? Sie hätten es ohnehin nicht geschafft! Nima hatte für diese Jahreszeit zu viele Kinder dabei!«
Ich reiße mich von Pema los und renne hinunter zum Fluß. Ich muß irgend etwas tun. Ich ziehe meine Schuhe und Hosen aus und steige ins eiskalte Wasser. Der Schmerz hilft mir, nicht völlig auszuflippen. Als ich wieder zu unseren Zelten zurückkehre, fühle ich mich ruhiger. Mein Entschluß steht fest: Bald wird Kelsang mit Richy kommen. Und dann werden wir weitergehen. Wir werden warten, bis Flüchtlingskinder über die Grenze kommen. Egal wie lange.
Kurz darauf stehe ich vor fünfunddreißig tibetischen Mönchen und ihrem Guide, und sie alle warten gespannt darauf, was ich ihnen zu sagen habe. Es gibt leichtere Situationen im Leben als diese. Sie sind jung, kaum älter als zwanzig. Sie haben bestimmt eine harte Zeit hinter sich. Sie sind voll mit ihren Geschichten, die sie mir anvertrauen wollen. Doch ich will sie nicht hören. Nicht jetzt. Richy und Kelsang haben unser Basislager erreicht. Mein Kameramann ist topfit, wir können weiter. Unsere Kräfte und Batterien müssen wir aufsparen für ein paar Flüchtlingskinder, von denen ich nicht weiß, ob sie überhaupt noch kommen werden. Es tut mir so leid, als ich in die aufrichtigen Gesichter dieser jungen Männer blicke. Ich bitte sie, mich zu verstehen. Wenn wir Tibets Schicksal an eine große Öffentlichkeit bringen sollen, dann brauchen wir Kinder! Wie kann man den Menschen im Westen die Not des tibetischen Volkes besser nahebringen als durch die Tatsache, daß Eltern bereit sind, ihre Kinder auf so einen Marsch zu schicken? Die jungen Männer nicken. Sie haben mich verstanden. Ich frage den Guide, ob Tamding bei uns bleiben kann. Der Guide überläßt die Entscheidung dem Kleinen, der begeistert nickt.
Als die Mönche ihre Sachen packen,
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