Flucht über den Himalaya
wiedergetroffen zu haben. Nachdem ihr Bus damals von chinesischen Polizisten angehalten worden war und er flüchten mußte, hat er sich oft gefragt, was aus dem netten Amdo-Boy geworden ist.
»Du warst eine Woche eingesperrt?«
»Ja. Sie wollten von mir wissen, wer von den Mönchen der Guide ist. Der Guide ist weg, habe ich gesagt. Aber das haben sie mir nicht geglaubt. Sie waren sehr unfreundlich zu mir. Ich mußte zusehen, wie sie die Mönche geschlagen haben. Sie wollten auch wissen, wo du steckst!«
»Shit.«
»Und dann haben sie gefragt, wo ich wohne und wer meine Eltern sind. Aber ich habe ihnen nichts verraten!«
»Tapferer Junge.«
Anerkennend klopft Suja Tamding auf die Schulter.
»Nachdem wir frei waren, bin ich mit den Mönchen nach Lhasa zurückgegangen. Dort haben wir dann unseren Guide wiedergetroffen.«
Die milde Wärme dieses sonnigen Morgens schenkt Raum für Begegnungen. Sie gibt uns die Möglichkeit, einander vorsichtig kennenzulernen. Mit einer dicken Heilsalbe creme ich die aufgesprungenen Lippen der Kinder ein. Das ist das einzige, was ich für sie im Augenblick tun kann. Die ganze Nacht waren wir unterwegs. Und als wir endlich unser Basislager erreichten, war die Sherpa-Familie weg, bei der wir etwas zu essen hätten kaufen können.
Ein Glück, daß wenigstens die Sonne scheint! So können unsere durchnäßten Kleider und Schuhe trocknen. Auf den niedrigen Steinmäuerchen haben die Flüchtlinge ihre bunten Decken und Planen ausgebreitet. Nima ist in der Sonne eingeschlafen. Daß wir ausgerechnet für ihn keine Medikamente mehr haben, ist absurd.
Der junge Mönch, der Lobsang heißt, holt mit einem Kanister Wasser aus dem Fluß, während die Männer ein kleines Lagerfeuer machen. Verzweifelt ringt die schwache Flamme in der sauerstoffarmen Luft um ein wenig Nahrung. Doch ein alter Blasebalg tut Wunder, und wenig später steht ein Topf mit Schnee auf dem Feuer. Wenigstens Tee wird es zum Frühstück geben.
Der Mann mit dem Goldzahn stopft die durchgelaufenen Socken des kleinen Jungen, der sich verschämt die Augen reibt. Wahrscheinlich fürchtet er, wir könnten bemerken, daß er weint.
»Wir sollten drehen«, flüstert Richy.
Er hat recht. Vorsichtig dirigiert Jörg mit seinem Reflektor das Sonnenlicht in die Gesichter der Kinder. Ich bewege mich auf einem engen Grat zwischen Mitgefühl und meiner Pflicht als Dokumentarfilmerin. Denn Richy fängt diese wertvollen Augenblicke, die wenige Monate später Hunderttausenden Fernsehzuschauern zu Herzen gehen werden, mit unserer kleinen Kamera ein.
Die kleine Dolker hat zu weinen begonnen: »Ich will bei meiner Ama sein.«
»Weine nicht«, tröstet sie Chime, die ältere Schwester, »das hat keinen Sinn. Es würde Ama nur traurig machen.«
Tapfer schluckt das Kind seine Tränen hinunter und wischt sich mit seiner Mütze die Nase.
Chime erzählt uns, daß ihre Amala bald zu Besuch nach Indien kommen würde – spätestens in einem Jahr zu Losar! Sie ist ein sehr hübsches Mädchen mit einer warmen, rauhen Stimme. Sie glaubt nicht wirklich an den Besuch der Mutter. Sie erzählt uns das wegen ihrer kleinen Schwester, die aufmerksam unserem Gespräch lauscht.
Dann spricht Chime von der finanziellen Not ihrer Mutter, die das Schulgeld nicht bezahlen konnte und sich oft Geld bei Nachbarn leihen mußte. Den Vater erwähnt das Mädchen nicht. Und als ich vorsichtig frage, was er ihnen zum Abschied mitgegeben hat, antwortet Chime ausweichend: Vor ihrer Abreise habe sie nur kurz mit ihrem Paala telefoniert.
Dann kümmert sie sich schnell um die kleine Schwester, die wieder zu weinen begonnen hat.
In ihrer viel zu großen Jacke sitzt das kleine Mädchen mit den großen, dunklen Augen alleine auf der kalten Erde. Sie wirkt verloren und etwas isoliert von den anderen Kindern. Es ist, als schlafe sie mit offenen Augen.
Ich habe Scheu, mich ihr zu nähern, doch Pema hockt sich einfach zu der Kleinen hin. Er macht ein freundliches Späßchen über ihre zerzauste Frisur und wuschelt spielerisch durch das kurze Haar. Der Anflug eines verschämten Lächelns erhellt für wenige Sekunden die verschlossenen Züge des Kindes. Pema holt einen Kamm aus seiner Hosentasche und beginnt die Kleine zu kämmen. Sie scheint es zu genießen, daß er Strähne für Strähne ihr verfilztes Haar entwirrt. Wahrscheinlich ist es die unaufdringliche Berührung, die guttut, diese Mischung aus Fürsorge und Zuwendung.
»So, nun wirst du ein schönes Mädchen«, brummt
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