Flucht über den Himalaya
möchte sich ausruhen und später nachkommen. Suja nimmt ihm die Sonnenbrille ab. Tempas Blick wirkt abwesend.
»Wenn du jetzt hier liegenbleibst, ist es vorbei!«
Er zieht seinen erschöpften Kameraden hoch, doch wie ein Sack Mehl läßt sich Tempa wieder in den Schnee zurückfallen. Er besteht darauf, nicht mehr weiterzukönnen.
»Sei kein Weichei! Sogar die Kinder schaffen das!« Ein wütender Unterton schwingt in Sujas Stimme.
»Tempa, steh auf«, versuchen es Currasco und Yeti freundschaftlich.
Doch Tempa dreht sich demonstrativ zur Seite. Er möchte in Ruhe gelassen werden, einfach einschlafen. Doch nicht mit Suja. Er nimmt eine Handvoll Schnee und reibt sie Tempa ins Gesicht: »Steh endlich auf, du verdammter Hund!«
Currasco protestiert: »Du tust ihm weh!«
Tempa heult. Er will nicht mehr, er kann nicht mehr! Lieber möchte er sterben, als weiterzugehen.
Bei so viel Selbstmitleid platzt Suja endgültig der Kragen. Er packt den Lamentierenden, zwingt ihn in die Knie und reißt ihm die Mütze herunter. An den Haaren zieht er Tempas Kopf in den Nacken und greift nach seinem Messer.
»Hör auf !« schreien Currasco und Yeti.
Tempa spürt eine scharfe Klinge an seinem Hals.
»Du stehst jetzt auf und gehst weiter, oder ich schneide dir die Kehle durch. Ich meine es ernst. Es geht ganz schnell. Erfrieren ist schlimmer.«
Der große Schreck bringt Tempas Körpersäfte wieder in Schwung.
»O.k.«, ächzt er, »ich geh‘ ja schon.«
Wenig später beobachten die Flüchtlinge, wie Tempa wütend den Berg hochstapft, gefolgt von Currasco, Yeti und Suja.
»Entweder war er in seinem früheren Leben ein Verbrecher oder er ist ein Mensch gewordener Buddha«, denkt Yeti.
» Als wir durch den Schnee gingen, dachte ich, daß ich sterben muß. Da vermißte ich meine Mama am meisten. Ich wäre am liebsten wieder nach Hause gegangen, wenn mich jemand gefragt hätte. «
DOLKER
Ein Schritt und noch ein Schritt und noch ein Schritt. So lange sie noch einen Fuß vor den andern setzen können, geht das Leben weiter. Immer weiter. Sie sinken bis zum Bauch in den Schnee, der von der Mittagssonne in weichen Matsch verwandelt wurde. Das Blut pocht gegen ihre Schläfen. Die Lungen ringen um Luft. Sie sind fast blind vom gleißenden Licht. Yeti schleppt Little Pema. Goldzahn schleppt Dhondup.
»Chola, ich sterbe«, flüstert Dolker, die ihre Arme um Sujas Hals geschlungen hat.
»Versuch zu schlafen. Wenn du aufwachst, sind wir an der Grenze.«
Suja stellt seinen Rucksack, den er auf der Brust getragen hatte, in den Schnee und arbeitet sich gebückt weiter, damit ihm die Kleine nicht vom Rücken rutschen kann. Das Kind im Tausch gegen seine letzte Habe.
»Wie weit noch bis oben?« fragt Tempa mit gepreßter Stimme. Nima blickt in den sachte ansteigenden Hang, der sich in absehbarer Ferne verheißungsvoll in den Horizont hineinwölbt.
»Eine Stunde«, ruft er, und wieder denkt er: zwei.
»Ich glaube, ich kann die Windpferde schon sehen!« flüstert der Student zu Lobsang.
»Das bildest du dir ein. Wahrscheinlich sind es bunte Vögel«, mit halb geschlossenen Augen tastet der junge Mönch sich weiter – gefolgt von Chime, die sich als einziges der Kinder alleine durch den hohen Schnee kämpfen muß.
Wo bleibt Pema? denkt Nima. Er müßte uns schon längst gesehen haben. In der Offenheit der Landschaft sind sie die einzigen Farbkleckse, die auf der riesigen Schneefläche auszumachen sind.
»Ich kann nicht mehr!« stöhnt Yeti und setzt Little Pema ab. Auch Goldzahn ist am Ende seiner Kräfte. Er nimmt Dhondup an die Hand und zieht ihn hinter sich her.
Es ist so kalt. Und so viel Schnee. Wenn Ama wüßte, wie naß meine Schuhe sind und wie weh mir mein Fuß tut! denkt Little Pema. Wenn Ama sie in Indien besucht, wird sie ihr erzählen, wie schlimm es war auf dem Weg. Dann wird es ihr leid tun, sie weggeschickt zu haben …
Ganz unten in seinem Rucksack hat Dhondup ein Foto von seinen Eltern versteckt. Es zeigt Amala und Paala vor ihrem Haus. Es ist Frühling, und der Rhododendron blüht im Garten. Hier liegt Schimi Tata mittags immer in der Sonne. Hier züchtet der Vater die Kräuter für seine Medizin. Ob sein großer Bruder wieder bei ihnen ist? Vielleicht ist jetzt Ama sehr böse auf ihn! Es wäre schön, wenn Dhamchoe ihn einmal besuchen kommt … in Indien.
»Das sind keine Vögel, das sind Windpferde!« ruft der Student. Die buntbedruckten Fahnen, auf denen die Gebete mit dem Wind in alle Welt reiten sollen,
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