Flucht über den Himalaya
Ein großer, kräftiger Typ schleppt ein Kind in einem gelben Schneeanzug. Immer wieder bricht er bis zur Brust in die Schneedecke ein.
»Los, Pema – rauf zu dem gelben Kind!« ruft Richy.
Nur mühsam kommen wir vorwärts. Ständig rutschen wir aus, fallen hin, stolpern über unsere Kabel. Wir haben keine Hand frei, um uns abzufangen, und für einen kurzen Moment weiß ich nicht mehr, wo oben und unten ist. Da spüre ich eine vertraute Hand in meinem Rücken. Es ist Jörg, der mich von hinten anschiebt.
An dem ausgestellten Röckchen seines gelben Schneeanzugs kann ich erkennen, daß das Kind ein Mädchen ist. Es hat seine Sturmmütze tief ins Gesicht gezogen. Der starke Mann beeindruckt mich: Als einziger trägt er keine Kopfbedeckung. Seine Sonnenbrille hält das halblange Haar aus der Stirn, die von einer großen Narbe dominiert wird. Ist das Nima?
»Suja!« ruft plötzlich Tamding, unser Strahlemann, von seinem sicheren Stein aus und winkt aufgeregt zu uns nach oben.
»Tamding!« ruft der Hüne mit dem gelben Kind und lacht.
Die beiden scheinen einander zu kennen.
Wo ist Nima, der Guide?
Auf allen vieren klettert Pema weiter, auf der Suche nach dem Freund. Er ist viel zu schnell für uns. Gleich hat ihn der Nebel verschluckt.
Zwei Erwachsene rutschen uns entgegen, sehr zierlich der eine. Eine junge Frau?
Nein, ein Junge – halb Kind, halb Mann. Schwer zu sagen, wie alt er ist. Seine Stimme klingt hell, als er uns mit einem erleichterten ›Tashi Delek‹ begrüßt.
Da kommt noch ein Kind. Ein Mädchen! Es ist schon etwas älter und schlittert einfach auf seinem Hosenboden den Berghang hinunter. Seine Klamotten müssen pitschnaß sein! Mit großen Augen schaut uns das Kind an, sagt kein Wort und rutscht vorsichtig weiter.
»Danke«, sage ich zum lieben Gott, »danke, daß du uns all diese Kinder heil über den Paß geschickt hast.«
»Go on«, sagt Richy.
Weiter oben liegen zwei Männer einander in den Armen und schluchzen vor Erleichterung. Der eine ist Pema. Neben ihnen steht ein kleines Kind im Schnee – in einer viel zu großen Jacke. Mit seinen großen, dunklen Augen blickt es uns verwundert an.
Ich hocke mich zu ihm, nehme vorsichtig seine Hand.
»Bhu? Bhomo? – Bub? Mädchen?« frage ich es mit meinen sparsamen Brocken Tibetisch.
»Bhomo«, antwortet Little Pema zaghaft.
»Wir müssen so schnell wie möglich aus dem Schnee raus«, sagt Pema, »Nima geht es nicht gut.«
Pemas Freund setzt seine Sturmkappe ab und schenkt uns ein schwaches Lächeln zur Begrüßung. Er hat ein freundliches, rundes Gesicht – fast knabenhaft mit schelmischen Augen.
Das ist er also – Nima, der Guide, von dem die Leute sagen, er sei so gut wie Gold.
Auf dem ersten Stückchen Gras, das die zerfließende Schneedecke freigegeben hat, wartet die Gruppe auf uns. Die Kinder und Männer haben sich einfach auf den feuchten Boden fallen lassen. Ihre Blicke wirken entrückt. Sie sind am Ende ihrer Kräfte.
Als der rote Aufnahmeknopf von Richys Kamera wieder zu blinken beginnt, senkt sich plötzlich eine mystische Stille auf die Szenerie.
Die offenen Gesichter der Kinder, in die vereinzelte Schneeflocken fallen, erzählen uns vom Schmerz, der Trauer und den Strapazen der letzten Tage. Auch Tamding hat die wehmütige Stimmung erfaßt. An seinen Augen kann ich sehen, daß sich das Drama seiner Flucht in der Erinnerung wiederholt. Er zittert vor Kälte und Erschöpfung.
Langsam hebt und senkt sich die Brust des starken Mannes, an der das kleine, gelbe Mädchen lehnt. Sie sehen einander irgendwie ähnlich. Jetzt schließt das Kind seine Augen und ruht sich am Herzen dieses seltsamen Mannes aus.
Der Nebel reißt auf und legt am Himmel ein paar blaue Flecken frei. Schwach dringen die letzten Sonnenstrahlen dieses Tages durch die brüchige Wolkendecke. Der Wind hat sich gelegt. Nur das Plätschern des dahinschmelzenden Schnees, der sich im Gras zu kleinen Bächlein sammelt, ist zu hören.
Eineinhalb Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet.
Sachte nimmt Pema dem kleinen Jungen mit den verschorften Lippen die große blaue Sonnenbrille aus dem Gesicht. Er ist höchstens acht, doch sein Blick ist mehr als eine Million Jahre alt.
Der erste Morgen in Freiheit
»Die Polizisten sahen aus wie Monster! Aber einer von ihnen war sehr nett. Er hat mir Tsampa zum Essen gegeben. Das habe ich dann mit den Mönchen aus meiner Zelle geteilt.«
»Und wie lange wart ihr im Gefängnis?«
»Eine Woche.«
Suja freut sich, Tamding
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