Flucht über den Himalaya
sind meine Beine zu stramm und mein Brustkorb zu breit für eine Frau geworden, die gerne zierlich wäre – und sensibel. Ich glaube schon, daß ich im Grunde meines Herzens Feingefühl besitze. Aber das Programm, das ich nun seit einem halben Jahr abziehe, hat mich auch hart werden lassen.
Ich werde so lange hier draußen bleiben, bis Jörg sich Sorgen um mich machen muß.
Nach einer Weile höre ich tatsächlich seine Schritte. Er sucht mich. Ich schaue ihm zu, bis er mich gefunden hat.
»Du hast genau gewußt, daß du die Kleine mit deinen Fragen zum Weinen bringst«, sagt er und setzt sich zu mir. »Wir hätten sie besser trösten sollen, anstatt in ihren Wunden zu wühlen.«
»Ich habe den ganzen Nachmittag mit den Kindern gespielt. Sie waren fröhlich, haben viel gelacht. Und wo warst du?«
»Ich bin den Berg hoch und habe mich in die Sonne gelegt. Ich mußte alleine sein.«
Wir schweigen eine ganze Weile, und keine einzige Sternschnuppe fällt vom Himmel herab.
»Was hast du mit ihnen gespielt?« fragt Jörg plötzlich.
»Aupo.«
»Aupo?«
»Das ist ein tibetisches Spiel mit kleinen Steinen. Du hebst ein Steinchen vom Boden auf, wirfst es in die Luft, hebst ein zweites Steinchen auf und mußt das erste fangen. Dann wirfst du beide Steinchen in die Luft und hebst schnell ein drittes vom Boden auf. So geht das immer weiter. Wer auf diese Weise die meisten Steine gefangen hat, ist Sieger.«
»Und wer hat gewonnen?«
»Tamding. Er ist mit Abstand der beste Aupo-Spieler.«
»Was ist eigentlich mit diesem anderen Jungen –«
»Du meinst Dhondup?«
»Er ist so schweigsam.«
»Ja, er ist sehr still. Aber er beobachtet uns die ganze Zeit.«
»Er hat einen seltsamen Blick. Als wäre er viel älter.«
»Eine ›alte Seele‹, würden die Buddhisten sagen.«
»Eine kleine, alte Seele«, sagt Jörg und drückt mir einen Kuß auf meine kalte Nase.
Nach einer durchzechten Nacht sind wir am frühen Morgen aufgebrochen. Viel Bier war geflossen, und zu später Stunde auch noch Schnaps. Ich fühlte mich nicht in der Lage, die Männer zu bremsen. Ich gönnte ihnen den Spaß, allerdings mit einem mulmigen Gefühl. In Lhasa kostet eine Flasche Bier weniger als eine Flasche Wasser. Und die vielen tibetischen Männer, die ihre hoffnungslose Situation mit Alkohol betäuben, erinnerten mich an die trinkenden Indianer in den Reservaten.
Als es Zeit war, unsere Zeche zu bezahlen, legte uns der Sherpa eine für nepalesische Verhältnisse astronomische Rechnung vor. Das stimmte mich übellaunig, denn ich spürte auch eine gewisse Berechnung dahinter, literweise Alkohol in unser Lager heraufgeschafft zu haben. Als wir zu unserem Zelt gingen, fluchte ich laut und trat mit meinen schweren Bergschuhen ein paar Steine durch die Luft. Ich stand kurz vor meinem ersten hochalpinen Wutanfall.
Pema legte seine Hand auf meinen Arm: »Sei nicht böse, Zazie-la. Diese Leute sind sehr arm. Wir sind wahrscheinlich die einzige Chance in ihrem Leben, richtig gut Geld zu verdienen. Heute abend vor dem Schlafengehen werden sie sich bei den Göttern für dieses Geschenk bedanken!«
Pemas Worte beschämten mich: »Woher nimmst du diese innere Größe, Pema-la?«
»Ich habe drei Liter Bier getrunken, das ist alles.«
Das weite Tal, das sich nun vor unseren Blicken öffnet, läßt den Ärger von gestern abend wie durch ein großes Tor entweichen. Die Sonne verwöhnt uns mit ihrer Wärme, und ihr Licht legt sich wie eine Liebeserklärung auf unseren Weg. Mit meiner Rechten schleppe ich die schwere Fototasche. In meiner Linken liegt schon seit einer ganzen Weile Little Pemas Hand – wie ein verfrorenes Küken, das Schutz sucht vor der der großen, weiten Welt.
Ich spüre, daß Dhondup sich darüber ärgert. Heimlich wirft er mit Steinchen nach der Kleinen. Auch die beiden Schwestern halten sich stets dicht in unserer Nähe und warten auf eine Gelegenheit, nach meiner Hand zu greifen. Erst jetzt wird mir bewußt, daß die Kinder wochenlang nur von Männern umgeben waren.
Was soll ich tun? Ich spüre, daß Little Pema meine Aufmerksamkeit am meisten braucht. Die anderen vier Kinder sind stark. Unglaublich, wie sie ihre Trauer tragen! Bei Little Pema hat man das Gefühl, sie festhalten zu müssen, damit ihre Seele nicht auseinanderbricht.
Beim kleinsten Anlaß weint sie. Gestern abend hat Suja mit seinem schrecklichen Messer ein großes Tsampabällchen in fünf Teile geteilt. Als Little Pema meinte, das kleinste Stück bekommen zu haben,
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