Flucht über den Himalaya
klatschen dem begabten Sänger Beifall.
»Wir müssen dringend was besprechen«, sage ich, bevor der Mann des Hauses seinen Krug mit Chang auf den Tisch stellen kann.
»Wir werden uns aufteilen. In zwei Gruppen.«
Nach reiflichem Überlegen beschließen wir, daß Nima, die fünf Kinder, Lobsang, Suja, Pema, Sotsi, Jörg, Richy und ich versuchen werden, den Propellerflieger nach Kathmandu zu nehmen. Goldzahn, Yeti, Currasco, Tempa und der Student werden von unserem treuen Sherpa Kelsang zu Fuß in die Hauptstadt gebracht.
Unsere Gastgeberin kramt in ihrer Truhe bereits nach weißen Glücksschleifen, damit wir uns alle auch gebührend voneinander verabschieden können.
Lhakpa, das Nomadenmädchen
Das Licht der aufgehenden Sonne schimmert durch den dünnen Stoff leicht vergilbter Gebetsfahnen. Plötzlich gibt der Wind den Fahnen einen Stoß und legt den Blick auf die ganze Pracht des roten Feuerballes frei. Eine einsame Bergdohle läßt sich übermütig aus dem Himmel fallen.
Richy ist ein Künstler, der an seiner Kamera hängt wie ein Junkie an der Nadel. Seit Tagen fieberte er nach dem perfekten Sonnenaufgang für unseren Film, nun hat er ihn. Jörg und Pema schlafen noch. Da es auf der Strecke zum Flugplatz einen großen Touristencheckpoint zu umwandern gilt, mußte Nima mit Suja und den Kindern noch im Dunkeln aufbrechen.
»Wir treffen uns auf dem Hügel mit den Gebetsfahnen«, flüsterte ich zu Jörg, bevor Richy und ich durch die knarrende Türe unserer Gastgeber in diesen frischen, jungen Morgen schlüpften.
Nun genieße ich die Strahlen der Sonne, atme das Licht mit allen meinen Poren. Mein Blick wandert über die Spitzen, Zacken, Gipfel und Schneefelder dieser herrlichen Bergwelt. Ich bin so glücklich. Ich schließe die Augen und bitte den Wind, meinen Dank den Göttern zu bringen.
»Das wird ein schöner Film«, sagt Richy und setzt sich zu mir. »Wir haben die Berge, wir haben den Schnee, wir haben eine coole Gruppe und tolle Kinder.«
Zwischen zwei riesigen Mani-Steinen tauchen die Köpfe von Jörg und Pema auf. Als sie näher kommen, bemerke ich, daß Pema einen Jungen an der Hand führt – den Kleinen von gestern abend! An seinem gelben Strickpullover erkenne ich ihn wieder.
»Das ist Lhakpa«, sagt Pema, als sie bei uns sind, »ihr großer Bruder hat uns gebeten, sie zum Dalai Lama zu bringen.«
Jetzt verschlägt es mir die Sprache: Der kleine Junge ist also ein Mädchen – und noch dazu ein tibetisches! Wo ist ihr großer Bruder jetzt? Wie kamen sie in diese Hütte? Und überhaupt – heißt das jetzt, wir haben noch ein Kind? Mit gesenktem Kopf steht die Kleine vor mir, während uns Pema ihre Geschichte erzählt.
Der große Bruder hatte Lhakpa alleine über den Paß gebracht. Als Nomade war es nicht schwer für ihn gewesen, den Weg nach Nepal zu finden. Doch als sie in bewohntes Gebiet gelangten, wußte er nicht weiter. Er kannte den Weg nach Indien nicht. Schließlich klopfte er an der Tür eines Häuschens, auf dessen Dach die vertrauten tibetischen Gebetsfahnen flatterten. Seine Landsleute versteckten die beiden in ihrer Stube und päppelten sie mit ihren köstlichen Suppen auf. Als wir dann einige Tage später an genau dieselbe Tür klopften, erschien dies dem jungen Mann wie eine glückliche Fügung. Doch unsere Kameras erschreckten ihn, so daß er nicht wagte, uns anzusprechen. Erst heute morgen, als Jörg und Pema ihre Schuhe schnürten, gab er sich endlich einen Ruck.
»Seltsam, daß unsere Gastgeber uns nicht auf die Kleine aufmerksam gemacht haben«, sage ich.
»Ich glaube, die hätten das Kind gerne bei sich behalten«, meint Pema. »Hast du nicht gemerkt, wie sehr der Alten die eigene Tochter fehlt? Beim Abschied hat sie richtig geweint – und erst der Bruder! Es war herzzerreißend!«
Die Kleine kaut an ihren Fingern. So fest, daß es beim Zusehen schmerzt.
Ich glaube, es war gut, daß Richy und ich bei diesem Abschied nicht dabei waren. Der verheißungsvolle Sonnenaufgang hatte uns samt Kamera rechtzeitig aus der Hütte gelockt.
So hatten Lhakpa und ihr Bruder ihre letzten Augenblicke für sich.
»Wie alt bist du?« frage ich das Mädchen.
Für einen kurzen Moment sieht es mich an. Wie die Sterne eines klaren Nachthimmels schmücken Hunderte von Sommersprossen sein hübsches, jungenhaftes Gesicht.
Dann senkt Lhakpa wieder den Kopf, ohne etwas zu sagen.
Sie will allein mit ihrer Trauer sein.
Es ist spätabends, als wir endlich das kleine Sherpa-Dorf erreichen, an
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