Flucht über den Himalaya
brach sie völlig haltlos in Tränen aus. Chime versuchte sie zu beruhigen, und Dolker war sofort bereit, auf ihren Anteil zu verzichten. Doch an Dhondups genervtem Gesichtsausdruck konnte ich sehen, daß dies nicht die erste Szene war, mit der Little Pema die ganze Gruppe in Aufruhr brachte.
Und wieder saust ein Steinchen knapp an Little Pemas Ohr vorbei.
Ich wünschte mir, zehn Jahre Pädagogik studiert zu haben. Dann hätte ich jetzt eine Lösung. Wenn ich meine Hand aus Little Pemas löse und der süßen Dolker reiche, wird diese Geste schmerzen. Beuge ich mich aber dem Druck, den Little Pema mit ihrem übersteigerten Bedürfnis nach Zuwendung auf uns alle ausübt, ist das ungerecht gegenüber den vier Kindern.
Zum Glück verordnet Nima eine Rast.
Doch kaum habe ich mich hingesetzt, klettert Little Pema flink auf meinen Schoß und streckt Dhondup triumphierend die Zunge entgegen.
»Morto!« schnauzt sie der Junge wütend an, und Tamding lacht: »Morto! Morto!«
Oh, wie grausam, denke ich. Denn ›morto‹ heißt im Tibetischen ›alte Frau‹. Bestimmt ruft Dhondup die Kleine wegen ihres hinkenden Beines so. Doch als Little Pema mich verschämt angrinst und ich ihre Zahnlücken sehe, wird mir klar, daß Dhondups Spott einen ganz anderen Anlaß hat.
20 . April. Wir haben ein Problem. Es ist spätabends, seit mehr als vierundzwanzig Stunden haben die Kinder nichts mehr gegessen. Der Proviant, den wir bei der Sherpa-Familie erstanden hatten, ist längst alle. Seit dem frühen Morgen sind wir ohne Pause auf den Beinen, und Nima hat Fieber.
Wir hocken auf der Böschung eines schmalen Weges. Längst haben wir die ersten Sherpa-Dörfer erreicht und müssen wieder im Schutz der Dunkelheit wandern. Etwa eine Stunde Fußmarsch von hier kenne ich Tibeter, bei denen wir vielleicht einkehren können.
Ich weiß nicht, ob sie mich mit meinen vielen Zöpfen wiedererkennen werden. Aber wir brauchen dringend was zu essen. Sonst kann ich keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Das Pärchen ist ein lustiges Gespann, das sein bescheidenes Leben mit viel Humor und Frohsinn meistert. Als uns der Alte freundlich in sein steinernes Häuschen winkt, kocht – wie bestellt – ein riesiger Topf Nudelsuppe auf dem Ofen. Ohne Fleisch! Es ist, als hätte mein Kölner Jürgelchen eine vegetarische Online-Bestellung für mich in den Himalaya geschickt!
Kaum haben die Kinder einen Löffel in der Hand, vergessen sie alles um sich herum und schaufeln mit genußvollen Schlürfgeräuschen die Suppe in sich hinein. Der unermüdliche Richy packt seine Kamera aus, und mit seinen kleinen Akku-Lampen beginnt Jörg, die heimelige Szene auszuleuchten. Als etwas Licht in die Hütte kommt, bemerke ich in einer stillen Ecke einen jungen Mann mit einem kleinen, hübschen Jungen, der einen gelben Strickpullover trägt. Daß auch sie Tibeter sind, beschäftigt mich nicht weiter. Angestrengt versuche ich mich gerade zu erinnern, über wie viele Sitzplätze ein Propellerflugzeug nach Kathmandu verfügt …
Pema hat es der Frau des Hauses offenbar angetan. Erst testet sie seine Schlagfertigkeit beim Flirten, dann will sie ihn als Schwiegersohn für ihre Tochter, die in Amerika studiert. Ich kann nur staunen: Wenn man den Sprung aus diesem Steinverschlag an ein amerikanisches College schafft, ist vieles möglich im Leben. Als Pema ihr Heiratsangebot dankend ablehnt, knöpft sich die Frau den hübschen Lobsang vor. Jetzt ist der Trubel groß in der Hütte, und ein Scherz jagt den anderen. Mit hochrotem Kopf versucht der junge Mönch, die Annäherungsversuche der selbsternannten ›Schwiegermutter‹ abzuwehren.
… Ich komme auf vierzehn bis maximal sechzehn Sitze pro Flieger. Von hier bis zum nächsten Flugplatz sind es etwa fünfzehn Stunden Marsch, bis nach Kathmandu acht Tage. Nima liegt auf dem Bett des Hirten, und sein Fieber steigt von Stunde zu Stunde. Wir müssen es mit dem Flugzeug versuchen. Doch wir sind zu viele Leute für den Flieger.
Wer fliegt? Und wer geht?
Jetzt fangen sie an zu singen. Der kleine Sotsi mit dem Zwirbelbart, der stets im Schatten seines hübschen Vetters Pema stand, stimmt das erste Trinklied an. Es ist ein Liebeslied aus Amdo.
Mein hübsches Singvögelchen,
ich wünsche dir viel Glück im Dickicht des Waldes,
ich wünsche dir viel Glück zwischen den dornigen Sträuchern!
Wenn uns das Glück ein langes Leben bescheren sollte,
laß uns beten,
daß wir irgendwann auf demselben Ast landen werden.
Die Männer
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