Flucht über den Himalaya
Pema, »die Jungs werden sich schlagen um dich!«
Jetzt hat der Blick der Kleinen auch Jörg und mich erfaßt.
»Sie heißt auch Pema«, erklärt uns Pema. »Ich bin Pema tschenpo, und das ist Pema tschungtschung: Big Pema – Little Pema.«
»Pema tch’ungtch’ung«, grinst die Kleine. Der Kosename scheint ihr zu gefallen. Sie beklagt sich nicht einmal, daß Big Pema an einem hartnäckigen Knoten zerrt. Mit etwas Wasser streicht er das gekämmte Haar schließlich glatt und zaubert sogar noch einen kleinen Spiegel aus der Hosentasche: »Schau mal, wie hübsch du jetzt bist! Was wirst du tun, wenn später einmal einer kommt und sagt: So ein nettes Mädchen! Genau die will ich haben?«
Als die Kleine im Spiegel die großen Kälteflecken auf ihren Backen sieht, verdüstert sich ihre Miene schlagartig.
»War es denn sehr schlimm auf dem Weg?« frage ich.
Das Kind nickt.
Bei unserem Abstieg habe ich beobachtet, daß Little Pema große Mühe hatte, mit dem Tempo der Gruppe mitzuhalten. Ihr linker Fuß ist nicht in Ordnung. Bei jedem ihrer Schritte schleift sie das Bein ein wenig hinterher. Nima hat erzählt, daß sie sich ein paar Monate vor der Flucht das Bein gebrochen haben soll. Es muß schwer für die Eltern gewesen sein, ihr Kind in diesem Zustand fortzuschicken.
»Was hast du gemacht, wenn dir dein Fuß weh getan hat?«
»Ich habe geweint und bin weitergegangen.«
Pema greift nach einem hübschen Medaillon aus Silber, das an einem bunten Gürtel um die Taille der Kleinen baumelt: »Von wem hast du das?«
»Von Ama.«
»Was hat deine Ama dir gesagt, als sie dir das Medaillon gab?«
Das Kind wendet sich von Pema ab und schaut zwei Vögeln hinterher, die durch den Himmel schweben.
»Vermißt du sie?« frage ich.
»Nein.«
»Und deinen Vater?«
Jetzt nickt das Kind.
»Und deine Mama vermißt du nicht?« fragt Pema nach.
Mit einen jähen Ruck schlägt Little Pema dem großen Pema das Medaillon aus der Hand. Ihr Blick wandert nach innen. Es ist, als ob sie plötzlich nicht mehr hier wäre, sondern weit, weit weg. Noch einmal versuche ich, sie mit meinen Fragen zu uns zurückzuholen: »Was hat Paala dir zum Abschied gesagt? Daß du gut auf den Weg achten sollst? Daß er dich nie vergessen wird?«
»Ich habe mich nicht von Paala verabschiedet«, sagt das Kind und fängt bitterlich zu weinen an.
Jörg legt seinen Sonnenreflektor aus der Hand und stapft wütend davon. Verwundert schaltet Richy seine Kamera aus: »Was hat er?«
»Vielleicht sollten wir endlich mit den Fragen aufhören«, meint Pema und nimmt das weinende Kind auf den Arm. Es ist mir unangenehm, den Bogen überspannt zu haben.
Als wir uns am Nachmittag mit leeren Mägen von den Strapazen der letzten Nacht ausruhen, kommt – schwer bepackt – die Sherpa-Familie zurück. Sie waren in ihr Winterquartier abgestiegen, um aus der Vorratskammer Nahrungsmittel für uns zu holen: Kartoffeln, Mehl, Fleisch und jede Menge Bier für die Männer. Wenige Stunden später drängen wir uns alle in der engen, verrauchten Hütte um ihren kleinen Ofen, auf dem ein riesiger Topf mit Fleischbrühe steht. Sogar der kranke Nima hat sich zu uns gesetzt und freut sich über den großen Appetit seiner kleinen Schützlinge.
Neben ihm hockt dieser kräftige Typ mit der Narbe auf der Stirn, der alle vier Kinder bis zum Paß hochgeschleppt haben soll. Er hat die stolze Ausstrahlung eines Kriegers. Nima ist der Guide, er der Häuptling der Gruppe.
»Wie heißt er?« flüstere ich zu Pema.
»Suja«, sagt Pema.
Ich verstehe ›Soldier‹ und denke: Der Name paßt.
Die Frau des Sherpa schenkt den Männern Bier ein, und bald ist die Stimmung in dieser Hexenküche besser als beim Après-Ski auf einer Tiroler Hütte. Nur zwischen Jörg und mir sind die Temperaturen auf dem Gefrierpunkt. Er würdigt mich keines Blickes und schneidet mich, wenn ich in seiner Nähe bin. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und schlüpfe durch die enge Türe ins Freie. Die lachenden und scherzenden Stimmen der Flüchtlinge folgen mir noch eine Weile, bis schließlich nur noch der Wind meine Ohren umspielt. Der Nachthimmel ist heute wieder klar, und die Sterne zeigen sich in ihrem schönsten Abendkleid. Ich habe schon lange keine Röcke mehr getragen, feine Blusen, Schmuck oder ein dezentes Parfum. Ich weiß nicht mehr, wie sich leichte Riemchensandalen anfühlen oder schlanke Pumps mit Absatz. Ich komme mir vor wie ein Trampeltier. Vom vielen Bergsteigen und den schweren Rucksäcken
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