Flucht über den Himalaya
Armen lag, fliegt mir sein Herz jeden Tag aufs neue zu! Er trägt eine seltsame Mischung aus irrer Komik und unergründlicher Tiefe in sich. Meistens ist er so chaotisch, wie es das Innenleben seines Rucksacks war. Er liebt es, uns mit seinen blöden Witzen zu unterhalten, die er stets mit großer Begabung vorträgt. Er möchte einmal Schauspieler werden. Als ich Dhondup jedoch nach seinem allergrößten Wunsch im Leben fragte, sah er mich mit seinem Alte-Seele-Blick an und sagte, was ich nie vergessen werde: »Mein größter Wunsch im Leben ist, die Güte meiner Eltern zurückzuzahlen.«
Wenn Lhakpa laut durch ihre Finger pfeift, sehe ich sie mit einem langen Hirtenstab über das weite Hochland ihrer Heimat laufen. In ihrer Seele wird sie immer ein Nomadenmädchen bleiben. Seit sie auf ihren eigenen Beinen stehen konnte, hütete Lhakpa die Schafe und Yaks ihres Vaters. Sie ist flink wie eine Berggemse und verschwiegen wie ein tiefer Brunnen. Kathmandu war die erste Stadt, die Lhakpa in ihrem Leben sah. Und als wir durch die engen Gassen des Thamel schlenderten, lachte sie so laut vor Vergnügen, daß sich alle bekifften Injis verwundert nach uns umdrehten. Sie ist eine Naturgewalt mit einem Gesicht, als ginge darin die Sonne Tibets auf.
Chime hat ihre Mutterrolle auch nach der Flucht nicht abgelegt. Weiterhin kümmert sie sich mit rührender Aufmerksamkeit um die anderen Kinder und hält die Gruppe mit strenger Hand zusammen. Sie achtet darauf, daß keiner von mir übergangen wird, daß alle zufrieden sind und niemand Little Pema ärgert. Immer noch warte ich auf Chimes Tränen. Den ganzen Weg über war sie so bemüht, die Trauer der kleinen Schwester aufzufangen, daß sie ihren eigenen Schmerz darüber vergaß. Chime ist Jörgs großer Liebling, und das wundert mich nicht. Beide sind stille und fürsorgliche Menschen. Sie könnten Vater und Tochter sein – wie Suja und Dolker. Als Suja bei unserer Begegnung in den Bergen sein Seelchen vom Rücken ließ und in den Schnee stellte, war Richys erster Kommentar: »Die Kleine sieht aus wie ein Fotomodell!« In dem gelben Fleeceanzug mit seinem ausgestellten Röckchen war Dolker vom ersten Moment an unsere kleine Schneekönigin. Sie hat ein ganz besonders zartes Wesen. Sie spürt und merkt alles. Wenn ich die Tonstange in der Ecke eines Restaurants liegenlasse, trägt Dolker sie mir nach. Wenn Little Pema weint, schießen auch Dolker die Tränen in die Augen. Sie ist die Kleinste von uns allen mit dem allergrößten Herz. Sie wirkt zerbrechlich wie Porzellan und ist in Wahrheit stark wie ein tief verwurzelter Baum.
Ganz anders Little Pema. Selbstvergessen kreist die Kleine meist um sich und ihre Probleme. Ist sie mit ihrer Außenwelt überfordert, wandert Little Pema nach innen und ist mit einem Mal unerreichbar für uns. Ich glaube, sie hat sehr viel Phantasie. Manchmal erzählt Little Pema von schlechten Träumen, und daß sie Bettnässerin ist, macht ihr das Leben in der Kindergruppe schwer. Jeder fürchtet sich, neben ihr schlafen zu müssen.
Einmal unternahmen wir einen kleinen Ausflug zu einem Kloster, und Little Pema hinkte wieder hinter den anderen Kindern her. Da fing sie an zu weinen und sagte etwas von ihrem Vater, der ihr linkes Bein zertrümmert haben soll. Diese Aussage kam völlig überraschend für uns. Doch als wir nachfragen wollten, hüllte sich Little Pema wieder in ihr undurchdringliches Schweigen. Es sollte lange dauern, bis sie bereit war, die ganze Geschichte zu erzählen.
Als Big Pema sich von den Kindern verabschieden mußte, um nach Kathmandu zurückzukehren, schenkte er Little Pema einen Türkis, der ihm schon viel Glück im Leben gebracht hatte.
»Sie wird den Stein am meisten von all den Kindern brauchen«, sagte er.
Wenige Tage zuvor hatte Little Pema das silberne Medaillon, das ihr die Mutter zum Abschied geschenkt hatte, verloren. Für mich ist das verlorene Medaillon ein Symbol ihrer verlorenen Kindheit.
Zum Nachtisch bestellen die Kinder wie immer Schokoladenkuchen und Zitronen-Ingwer-Tee.
Ich werfe Suja einen Blick zu. Es ist Zeit, es ihnen zu sagen: Heute abend geht unser Nachtbus nach Delhi. Von dort aus werden Jörg und ich nach Deutschland fliegen. Richy kehrt zu seiner Freundin nach New York zurück.
Wir dachten, die Kinder würden sehr erschüttert sein. Aber im Augenblick haben sie noch andere Sorgen: Der Wirt hat nur noch fünf Stück braune Kuchen in seiner Vitrine stehen. Einer muß mit einer Käsesahneschnitte oder
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