Flucht über den Himalaya
einem Apfelkuchen vorliebnehmen.
Auf dem Weg zum Busbahnhof machen sie ihre üblichen Späße. Nur Dolker greift nach meiner Hand – und natürlich Little Pema.
Suja bittet mich um Geld: Er möchte mit den Kindern morgen essen gehen und übermorgen und überüberübermorgen, damit nicht alles plötzlich so anders ist, wenn wir weg sind. Ich habe nur noch hundert Mark, die ich ihm geben kann. Unser Budget, die Börse aus blauem Goretex, ist nun endgültig erschöpft.
»Du mußt ein Lied singen!« sagt Tamding am Bus. »Wer geht, muß immer ein Lied singen.«
The very thought of you makes my heart sing
like an April breeze in the winds of spring …
Mit lautem Gehupe bringt mich der indische Busfahrer zum Schweigen. Wir müssen einsteigen. Plötzlich fängt Chime zu weinen an. So bitterlich, daß alles um sie herum betroffen innehält. Sie will nicht, daß wir gehen. Sie möchte nicht schon wieder Lebewohl sagen müssen.
Auf Hindi scheucht uns der überdrehte Schaffner in den Bus. Suja nimmt Chime in seine Arme und hält sie ganz fest. Ich öffne das Fenster an meinem Sitzplatz und strecke meine Hände nach den Kindern aus. Ich verspreche Chime, daß wir ganz bestimmt wiederkommen werden. Ich werde unseren Film in Deutschland fertigmachen und sie dann alle besuchen. Ganz bestimmt. Aus seinen großen Augen blickt mich Dhondup an. Gerade er, dem die Sätze immerzu wie reife Früchte von der Zunge fallen, hat plötzlich keine Worte mehr.
Der Fahrer läßt den Wagen an, und die Erschütterung des Motors löst auch meine Tränen. Da greift auf einmal Lobsang nach meiner Hand: »Ich habe nur noch dich. Bitte vergiß mich nicht und sei auch meine Amala.«
Der Bus biegt um die Kurve. Nun kann ich sie nicht mehr winken sehen.
Epilog
» Viele Kinder haben Heimweh, wenn sie hierherkommen, und vermissen ihre Eltern. Aber es ist immer jemand da, der nach ihnen schaut – die Hausmutter oder ältere Kinder. Sie bekommen auch viel Trost voneinander. Ich denke, sie alle sind sich unserer Situation sehr bewußt: Wir haben unser Land verloren, wir leben im Exil, und das ist nicht unsere Schuld. Es ist unser Schicksal. Unser Karma.
Und dann ist da noch die Hoffnung. Die Hoffnung jedes Tibeters, einmal nach Tibet zurückzukehren. Und wenn man an Tibet denkt, dann bekommt man Stärke. Selbst die Kleinen, die hierher kommen, verstehen das. Sie wissen, ich muß hier studieren. Und wenn ich groß bin, werde ich etwas für Tibet tun. «
JETSUN PEMA, SCHWESTER DES DALAI LAMA
UND LEITERIN DER TIBETISCHEN KINDERDÖRFER
Eines Tages werden wir alle zusammensein
– drei Jahre später –
Dear Zazie and Yak!
Today I write short letter, because tomorrow we have exam. When I write long letter, then bad exam.
I love you!
DHONDUP
Liegt heute ein dicker Brief aus Dharamsala mit dem grünen Logo der SOS-Kinderdörfer in meinem Briefkasten, laufe ich schnell die Treppen zu meiner kleinen Wohnung hoch und öffne das Kuvert mit fieberhafter Vorfreude: Post von unseren Kindern!
Dann rufe ich Jörg an, und wir verabreden uns, um gemeinsam die Briefe zu lesen, die stets an uns beide gerichtet sind: »Dear Zazie and Yak!«
Der Name Jörg ist für Tibeter schwer auszusprechen, deshalb haben die Kinder einfach einen Yak aus ihm gemacht. Und damit er sich als einziger Yak Deutschlands nicht so einsam fühlt, haben sie ihm eine Postkarte geschickt, auf der eine ganze Yakherde abgebildet ist.
In der ersten Zeit sind es vor allem Bilder, die wir bekommen. Typische Kinderzeichnungen, auf denen sich die Erinnerungen an Tibet mit den Erfahrungen des neuen Lebens mischen. Doch bald kritzeln sie ihre ersten Buchstaben und Wörter auf Briefpapier – und schließlich ganze Sätze in englischer Sprache: »I am happy school« oder »thank you watch«, nachdem unser Päckchen mit den sechs bunten McDonald’s-Uhren tatsächlich im Tibetischen Kinderdorf von Dharamsala angekommen ist.
Das Tibetan Children’s Village von Dharamsala ist das erste Kinderdorf, das Seine Heiligkeit mit Hilfe seiner älteren Schwester Tsering Dolma Anfang der sechziger Jahre aufgebaut hat.
Schon bald nach der geglückten Flucht des Dalai Lama im Jahr 1959 trafen die ersten Kinderflüchtlinge aus Tibet in Indien ein. Viele von ihnen hatten miterleben müssen, wie ihre Eltern von den Chinesen umgebracht oder in Arbeitslagern interniert worden waren. Dann kam auf Grund der Kollektivierung der Felder und einer falschen Agrarpolitik die Zeit des großen Hungers über Tibet,
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