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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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gelähmt, bis sich die Szene vor seinem inneren Auge noch einmal abspielte, wie die Zeitlupenwiederholung bei einer Sportübertragung. Und dann begriff Harry schlagartig: Der kotzende Kieso, der Leuchtturmmaler Boy Jensen, war von Bord der »Elsa« gegangen. Unfassbar.
    »Scheiße, Mann über Bord«, sagte er zu sich selbst. Er fühlte sich wie ein Akteur in einem Katastrophenfilm. Was war in so einer Situation zu tun? Harry hatte keine Ahnung. S.   O.   S.? Leuchtraketen? Funknotrufe? Er wusste nichts von der Seefahrt. Gab es auf der »Elsa« überhaupt ein Funkgerät? Harry riss an dem Motorhebel, um die Fahrt zu verlangsamen. Mit einer Plastikkiste klemmte er notdürftig das Steuer fest und rannte nach draußen. Er starrte in die dunkle stürmische See, in die Richtung, in der er Kieseritzky vermutete. In einer Hand hielt er einen der beiden Rettungsringe. Mit der anderen umklammerte er die mit roter Rostfarbe gestrichene Ankerwinde. Das Deck war grün gestrichen, Teile dazwischen braun. Kieseritzky, oder wer auch immer, hatte die Farbe genommen, die gerade da war. Das fiel Harry inmitten seiner Panik auf, als er nur kurz einmal zu Boden guckte, um zu sehen, dass er sicher stand. Dann suchte er wieder die Wellen ab. Erfolglos.
    Rundherum nur Wasser. Land war nicht in Sicht. Und auch von Kieso war nichts zu sehen. Wo sollte er den Ring mit der großen Aufschrift »Elsa« hinwerfen? Wollte er ihn überhaupt retten?
    Am Dach des Steuerhauses gab es einen großen drehbaren Suchscheinwerfer. Ein Kabel führte aus dem |154| Scheinwerfer heraus und verschwand dann in der Wand zum Steuerhaus. Aber wo war der Schalter? Im Steuerhaus entdeckte Harry einen korrodierten Drehschalter, der auf die Holzverkleidung montiert war und gefährlich danach aussah, dass man sich einen Schlag daran holen konnte. Er drehte daran. Nichts passierte. Veränderte sich der Klang des Motors? Hörte er Hilfeschreie? Nein, das bildete er sich nur ein. Harry irrte planlos an Deck umher.
    Bei dieser stürmischen See hatte er keine Chance, einen Ertrinkenden zu retten. Er wusste nicht mal, wie er das Schiff manövrieren sollte. Er musste jetzt sehen, dass er es selbst überhaupt schaffte. Letztlich war dieses blöde Arschloch Kieseritzky doch selber schuld! Harry stierte ins dunkle Wasser.
    Zurück im Steuerhaus, versuchte er noch mal, so etwas wie eine Runde zu drehen. Um die Stelle herum, wo er vermutete, dass Kieseritzky über Bord gegangen war. Aber das machte er nur, um irgendetwas zu tun und sein Gewissen zu beruhigen. Dann konzentrierte er sich ganz auf das Schiffsmanöver.
    Worauf musste er achten? Um die Tiefe machte er sich bei diesem hohen Seegang wenig Gedanken. Es war bestimmt Hochwasser. Gestern Nacht zumindest etwa um dieselbe Zeit am Anleger in Steenodde war Hochwasser gewesen. Aber er musste wohl trotzdem aufpassen, dass er nicht irgendwo auf Grund lief. Sandbänke waren im Wattenmeer ein Problem, hatte er immer mal gehört. Gab es ein Echolot an Bord?
    Wie sollte er jetzt überhaupt allein von dem Schiff |155| an Land kommen? Und das bei diesem Wetter. Er wusste überhaupt nicht, wo er sich mit dem Kutter im Augenblick befand. Sylt hatten sie gleich am Anfang ein ganzes Stück hinter sich gelassen. Das Schiff kämpfte sich wahrscheinlich gerade ein paar Kilometer vor Amrums Küste den Kniepsand entlang. Erst mal musste er sich orientieren.
    Er hatte zwar die Leine angenommen, als Kieseritzky ihn am Nachmittag an der Mole in Steenodde abgeholt hatte. Aber für ihn war es unvorstellbar, ein Anlegemanöver im Hafen hinzubekommen. Und was sollte er den Leuten überhaupt sagen, wenn er allein mit der »Elsa« auf Amrum anlegte? Er könnte einfach schildern, was passiert war. Er hatte keine Schuld, dass dieser Idiot über Bord gegangen war. Er müsste die Feuerwehr alarmieren. Oder   ... ja, die Polizei. Das war das Problem. Er bekäme es mit der Polizei zu tun.
    Guschhh.
    Wieder erwischte das Boot mit seinem ganzen Rumpf eine Welle. Aber das konnte Harry nicht mehr beeindrucken. Mit gleichmäßig rachitischem Rasseln zog der Kutter durch die aufgewühlte See. Das machte Harry Mut. Er steuerte jetzt auf einen Leuchtturm zu. Ein Punkt in der Dunkelheit, von dem aus die Lichtkegel weit ausholend ihre Kreise durch die Nacht warfen. Das war eindeutig das Wittdüner Leuchtfeuer. Aber wollte er da überhaupt hin?
    Die Polizei konnte er jetzt nicht gebrauchen. Da war sich Harry ganz sicher. Die Gefahr, dass sie ihn und das Verschwinden von

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