Flucht übers Watt
kleiner Luftblasen nach oben.
Sein Herz schien kurz stehen zu bleiben und dann raste es. Harry bekam panische Angst. Der Auftrieb brachte seinen Kopf nach oben. Er schnappte hektisch |159| nach Luft, einen Moment zu früh, sodass er etwas Wasser schluckte. Er drehte sich zu dem Kutter um, der sich bereits ein Stück entfernt hatte, als ihn eine erneute Bugwelle unter Wasser drückte. Nach Luft japsend tauchte er auf und suchte wassertretend nach Grund. Aber hier konnte er nicht stehen. Den Rettungsring hatte er verloren. Er trieb ein Stück weiter auf dem Wasser.
Harry war nie ein guter Schwimmer gewesen, aber jetzt fielen ihm die Schwimmbewegungen besonders schwer. Die Kälte lähmte sofort seine Muskeln, und die nasse Kleidung zog ihn nach unten. Er hatte seine gesamten Klamotten einfach anbehalten. Was hätte er sonst tun sollen? Sein Herz trommelte, und seine Arme und Beine widersetzten sich jedem Impuls. Ein Ufer war nicht mehr zu sehen, nur Wellen, die ihn auf und ab trugen, aber auch hinabzogen, sobald er mit den Schwimmbewegungen nachließ. Harry bekam Todesangst. Sollte das tatsächlich sein Ende sein? Sollte er hier elend in der kalten Nordsee ersaufen, wie sein ehemaliger Mitstudent und Nebenbuhler Kieseritzky vor nicht mal einer halben Stunde? Oder hatte der vielleicht sogar überlebt?
Brustschwimmend wurde Harry von einer Welle nach oben getragen, als wenige Meter vor ihm auf einmal Schaumkronen im dunklen Wasser aufblitzten. Die Welle brachte ihn mit einem Schwung ein ganzes Stück näher heran. Bevor die Brandung ihn wieder zurückzog, strampelte er mit den Beinen noch einmal nach Grund. Er hatte sofort Boden unter den Füßen. Es war gar nicht einfach, bei dieser Brandung in den |160| nassen Klamotten aus dem Wasser herauszukommen. Doch dann stand er unerwartet mit dem ganzen Oberkörper im Freien. Mit den Armen rudernd, wühlte er sich weiter aus dem Wasser heraus. Mit jedem Schritt wurde es flacher. Dies musste tatsächlich die Sandbank sein. Sand war allerdings nicht zu sehen. Aber die Wellen brachen sich, fast so, als liefen sie auf den Strand auf. Harry watete jetzt durch knietiefes Wasser. Flacher wurde es nicht. Bei Hochwasser und erst recht bei Sturmflut wurde diese Sandbank offenbar überspült.
Die »Elsa« war währenddessen hinter ihm eine ganze Strecke in die See getuckert. Die Positionslichter, rot, grün und weiß, tanzten synchron in der dunklen See hin und her, auf und ab. Von der Erhebung der Sandbank aus war jetzt auch wieder der hell strahlende Dünengürtel zu sehen. Aber er war endlos entfernt. Harry konnte schwer einschätzen, wie weit es bis zum Ufer war. Er watete schneller durch das knietiefe Wasser, das nach einiger Zeit wieder tiefer wurde. Dann fiel die Sandbank steil ab, sodass er wieder schwimmen musste. Hundert Meter, zwei- oder dreihundert? Harry konnte es einfach nicht abschätzen.
Schon nach wenigen Zügen schoss ein Krampf in seine rechte Wade. Jede Bewegung schmerzte. Und nach mehreren Minuten hatte er nicht den Eindruck, dem Ufer merklich näher gekommen zu sein. Das Wasser war eiskalt. Er wechselte in die Rückenlage. Das ging mit dem Wadenkrampf besser. Über ihm zogen tiefliegende Wolkengebilde hinweg. In der Ferne sah er die Positionslichter der »Elsa«, die |161| Richtung Nordwest erstaunlich schnell kleiner wurden.
Er zwang sich zu gleichmäßigen Schwimmbewegungen, ohne sich dabei immer wieder umzudrehen. Harry hatte keine Ahnung, wie lange er so vor sich hin gerudert war, fast bis zur Besinnungslosigkeit. Als er sich wieder umdrehte, traute er seinen Augen nicht. Beinahe wäre er auf den Strand aufgesetzt. Erleichtert stapfte er aus dem Wasser. Er zitterte vor Kälte am ganzen Körper. Das Wasser floss in Strömen aus seinen Klamotten. Er versuchte, seinen Pullover und Anorak auszuwringen. Aber viel brachte das nicht. Seine Sachen hingen schwer wie Blei an ihm. In dem triefenden Anorak fühlte er seine Brieftasche und den eiförmigen Holzanhänger seines Zimmerschlüssels. Er schien beim Schwimmen glücklicherweise nichts verloren zu haben. Mit den nassen Sachen im Wind war es fast noch kälter als im Wasser. Um warm zu werden, begann er zu laufen.
Er wusste genau, wo er war. Das Norddorfer Leuchtfeuer lugte über die Dünen. Er musste jetzt nur den Strand entlanglaufen bis zu dem Aufgang in Nebel und dann durch die Dünen und das Wäldchen zurück in die Pension. Sein Fahrrad, das an der Mole in Steenodde stand, wollte er dann morgen früh
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