Flucht übers Watt
Kieso mit dem Nolde-Raub in Verbindung bringen würden, war zu groß. |156| Und dann war da ja auch noch der tote Fährmann. Nein, den Kontakt mit der Polizei wollte er so lange wie möglich vermeiden. Irgendwie musste er an Land kommen. Und die »Elsa« musste gleichzeitig auf See bleiben. Untergehen? Oder irgendwo auflaufen? Aber auf keinen Fall mit ihm an Bord. Am besten, das Schiff wäre erst einmal verschwunden und sein Käpt’n Kieso mit ihm.
Dicht vor dem Kniepsand zwischen Nebel und Norddorfgab es Sandbänke. Vom Strand aus hatte er dort gestern Robben beobachtet. Wie wäre es, wenn er die »Elsa« dort einfach auflaufen ließ. Oder besser noch, er sprang von dem fahrenden Schiff auf eine der Sandbänke. Konnte er sich von dort an den Strand retten? Waren die Sandbänke bei diesem Wetter überhaupt zu sehen? Dort an Land zu kommen, war zumindest eine Möglichkeit. Davon war Harry jetzt überzeugt. Er redete es sich zumindest ein. In den Hafenanlagen von Wittdün oder Steenodde war es außerdem viel zu riskant, beobachtet zu werden.
Beherzt drehte er mit einem Schwung steuerbord und ließ das hölzerne Rad dabei durch seine Hände laufen. Fast routiniert kam er sich dabei auf einmal vor, wie er das wacker stampfende Boot in einem großen Bogen durch die hohen Wellen lenkte. Der Leuchtturm, der eben linksseitig gelegen hatte, warf sein Licht jetzt von rechts, steuerbord. Darunter meinte Harry den Strand zu sehen, ein unwirklich weißes Leuchten der Dünen in der Nacht. Wie eine Fata Morgana.
|157| Stück für Stück lenkte er das Schiff näher an den Strand heran. Das brauchte eine ganze Weile. Er hatte heute einen Krabbenkutter gesehen, der recht nah am Ufer gelegen hatte. War er schon so nahe? Während er das Steuerrad mit der Linken hielt, suchte er seitlich durch die offene Tür des Steuerhauses das Wasser nach Untiefen und Sandbänken ab. Die Wellen waren nicht mehr ganz so hoch. Dafür geriet die »Elsa« in ein seitliches Schaukeln. Der Regen hatte nachgelassen, und auch der Sturm war nicht mehr ganz so heftig. Aber vielleicht lag es einfach daran, dass er sich dem Ufer näherte. So konzentriert er auch guckte, er konnte im Wasser keine Unregelmäßigkeiten erkennen. Aber das weiße Leuchten der Dünen wurde deutlicher.
Am besten sollte er einen der Rettungsringe mitnehmen, wenn er von Bord sprang. Er musste schnell reagieren, wenn die Sandbank da wäre. Er stellte die Fischkiste bereit, mit der er das Steuer festklemmen wollte. Und er legte sich einen Rettungsring zurecht.
Das Geräusch kam plötzlich wie ein Schlag und ging durch Mark und Bein. Krirrschkrr! Ein unheimliches Knirschen, das Schiff und Steuermann durchfuhr. Der Kutter kippte ein Stück. Harry reagierte sofort. Er drehte das Steuer hektisch backbord und stemmte den Motorregler nach vorn. Die Maschine verschluckte sich kurz, hustete einmal kräftig, um dann in ein trommelndes Stakkato überzugehen. Das Knirschen wurde einen dramatischen Moment lang noch bedrohlicher. Krirrschkrr. Dann war es genauso schnell wieder vorbei. Der Kutter richtete sich auf. Das Schiff war wieder frei.
|158| Jetzt sah Harry die weiße Gischt, die ganz offensichtlich die Sandbank anzeigte. Sand war nicht zu sehen. Aber er musste es hier versuchen. Er drosselte den Motor und steuerte an der vermeintlichen Sandbank entlang. Ganz vorsichtig, konzentriert horchend, näherte er sich der flacheren Stelle. Beim erneuten ersten leisen Knirschen machte er ganz schnell. Er lenkte leicht backbord, klemmte die Kiste unter das Steuerrad und schnappte den Rettungsring. Einen Sekundenbruchteil stand er noch wie erstarrt da. Aber dann nahm er Anlauf und sprang mit einem großen Satz steuerbord über die Reling in die Fluten.
Es konnte eigentlich keine große Höhe gewesen sein. Wie der Sprung von einem Einmeterbrett vielleicht, wenn überhaupt. Aber ihm kam der Flug deutlich länger vor. Für einen Moment schien es ihm so, als stände er in der Luft. Unter ihm das von einer Bugwelle des Kutters aufgewühlte, aber dennoch tiefschwarze Wasser. Und über der See am Horizont, jetzt ganz deutlich, die weiß leuchtenden Dünen. Es war wirklich wie ein Trugbild. Denn augenblicklich schlug das Wasser über ihm zusammen. Um ihn herum war auf einmal Eiseskälte. Er hatte keinen Boden unter den Füßen. Das Heulen des Windes und das Motorengeräusch waren plötzlich verstummt und einem dumpfen Grollen gewichen. Um ihn herum war alles dunkel. Aus seiner Kleidung heraus perlten Strudel
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