Flucht übers Watt
abholen. Um diese Uhrzeit müsste er eigentlich unbemerkt in die »Nordseeperle« kommen, überlegte Harry. An Kopf und Oberkörper wurde ihm beim Laufen ein klein wenig wärmer. Aber die Gliedmaßen drohten ihm abzufrieren, in den Klamotten, die wie Eiswickel schwer an Armen und Beinen klebten.
|162| Beim Betreten des Hauses bemühte er sich, ganz leise zu sein. Er schloss die Haustür auf. Der Eingang war beleuchtet, sodass er sich drinnen kurz an die Dunkelheit gewöhnen musste. Aber Licht wollte er im Flur nicht machen. Dass er erst jetzt nach Hause kam, musste keiner wissen. Aus dem Frühstücksraum leuchtete diffus das grüne Fluchtschild heraus. Auf der schmiedeeisernen Möwe mit Barometer lagen ein paar Lichtreflexe.
Ganz vorsichtig schlich er Stufe für Stufe vorbei an dem Sonnenuntergang, dem Wäscheklammer-Leuchtturm und den verblichenen Robben die Treppe hinauf. Bei jedem Schritt war ein schlüpfrig sattes Schmatzen in seinen durchnässten Sportschuhen mit den vollgesogenen Socken zu hören. Die schmutzig nassen Abdrücke aber, die ein Muster wie Krokodilleder hinterließen, fielen auf den bräunlich geflammten Fliesen gar nicht so auf, wie Harry befürchtet hatte.
Er hatte nur noch wenige Stufen vor sich, als sich wie aus heiterem Himmel die Tür des Zimmers »Seeschwalbe« öffnete und im gleichen Moment das Flurlicht aufflammte.
Harry schreckte zusammen. Aber er konnte jetzt nicht zurück. Von unten sah er zuerst nur das farbenfrohe Gewand: Stilisierte grüne, orange und braune Blüten auf knallgelbem Grund. In dem Umhang oder Morgenmantel, was immer es sein sollte, sah Silva Scheuermann-Heinrich aus wie die Botschafterin von Burkina Faso beim Neujahrsempfang.
»Ach, Sie sind es«, flüsterte sie, gar nicht verschlafen. Angesichts der vorgerückten Stunde wirkte sie vielmehr |163| erstaunlich munter. Nur die Holzperlen in den Haaren hatte sie schon abgelegt.
»’n Abend«, sagte Harry. Als wäre die Situation das Selbstverständlichste der Welt. Er holte den Schlüssel aus seinem durchnässten Anorak. Ohne sie anzusehen drängelte er sich an dem Festgewand aus Burkina Faso vorbei und öffnete die Tür der »Eiderente«.
»Meine Güte, Sie sind ja völlig durchnässt«, sagte sie.
»Ja, grausames Wetter«, brummte er und zog die Tür schnell hinter sich zu.
Sofort darauf klopfte es wieder leise. Er öffnete die Tür einen Spalt.
»Jogitee mit Rum?«, flüsterte Silva Scheuermann und versuchte dabei lasziv zu gucken, was gründlich misslang.
»Bitte?«
»Jogitee mit Rum!« Sie hob die Augenbrauen hinter der roten Brille und drängelte sich mit ihrem afrikanischen Gewand halb in die Tür. »Das würde Ihnen jetzt guttun.«
»Danke«, zischte Harry, der jetzt ungemütlich wurde. »Ich will jetzt einfach nur ins Bett.«
»Sie müssen es ja wissen.« Ihr Flüstern ging jetzt schon wieder leicht ins Quäkende.
»Genau. Und jetzt würde ich mich gern hinlegen.« Harry drängte sie mit der Tür aus dem Zimmer heraus. »Wir wecken noch die anderen Leute auf.«
»Ich wollte nur nett zu Ihnen sein«, sagte sie und drehte sich beleidigt um.
Im Spiegel, im kalten Licht der in den Badezimmerschrank |164| integrierten Neonröhre erkannte Harry sich kaum wieder. Sein Blick war hohl, die Lippen leicht bläulich und seine Nase kam ihm noch größer vor als sonst. Das nasse angeklatschte Haar sah aus wie aufgemalt. Ihm war, als guckte er auf sein eigenes Fahndungsfoto.
12
Den langen Bohlenweg bei Nebel durch die Dünen kennt er von damals. Auf dem gerade renovierten Holzsteg rollt Harry und Zoe eine Rentnertruppe mit Walkingstöcken entgegen. Die Senioren, alle in bunt gefleckten Sportklamotten, werfen beherzt die Arme nach vorn, den Griff des Stockes fest umklammert. Ein Stakkato der Stockschläge auf dem Holz zieht sich durch die Dünen, erstaunlicherweise ohne dass sich eine der Spitzen zwischen den Brettern verhakt. Im Vorbeimarschieren rufen ihnen alle nacheinander ein zackiges »Moin« zu.
»Morning«, lacht Zoe und zeigt ihre Zähne. Bald danach verliert sich das Klacken hinter der nächsten Düne im Gelächter der Möwen.
An dem Zeitungsladen in Nebel bleibt Harry stehen.
»Hier, guck dir das an. Bilder von Kieso.« Er drehte den Postkartenständer. »Der ganze Ständer voll mit Leuchttürmen von Kieso. Unglaublich.«
Vor der »Nordseeperle« steht wieder der Lieferwagen. Die Stühle mit dem Paul-Klee-Muster scheinen |165| mittlerweile entsorgt. Aus dem Haus hört man das Kreischen einer
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