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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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stellte sich in der Schlange an, die heute erheblich länger war als in den vergangenen Tagen und erstaunlich ungeordnet.
    Harry wollte diesmal gar keinen Fisch. Aber er war neugierig. Da war offensichtlich etwas passiert. Es waren wieder dieselben Leute wie in den letzten Tagen, aber auch ein paar andere. Der Typ mit den Mäusezähnen war natürlich wieder dabei.
    »Der sah schlimm aus«, sagte der Mann, der vorgestern noch in seinem Opel auf der Mole gewartet hatte. Heute liefer zusammen mit einem anderen aufgeregt auf dem Anleger herum, während sich ihre Frauen bemühten, in der ungeordneten Reihe die Stellung zu halten.
    »Ganz schlimm. Haben Sie ihn auch gesehen?«, fragte der Mann.
    |175| »Ja, natürlich, ich komm ja grad von Wittdün«, antwortete die Frau mit dem Plastikeimer, die Harry für eine Amrumerin hielt.
    »Ach so.«
    »Ich mochte gar nicht hingucken«, sagte eine Rentnerin mit einer durchsichtigen Regenhaube auf dem Kopf. »Der eine Arm war ja fast wie abgerissen. Und dann das Gesicht, furchtbar. Die eine Seite war ja praktisch   ... ja, wie soll man das beschreiben?«
    »Wahrscheinlich die Seevögel«, sagte der Opelfahrer.
    »Ach wat, der ist doch nur ’n paar Stunden im Wasser gewesen«, protestierte die Amrumerin mit dem Plastikeimer. »Wan da mööwe deerbai gunge, dåt schucht oners üt   ... Die gehen erst mal an die Augen. Das hier sah mir eher nach Schiffsschraube aus.«
    »Hör’n Sie bloß auf!«, juchzte die Regenhaube.
    Auch Harry wurde ganz weich in den Knien, als er sich Kieseritzky in der Motorschraube vorstellte. Außer ihm waren offensichtlich alle in Wittdün dabei gewesen, als der tote Kieso von einem Polizeiboot an Land gebracht worden war.
    »Der Kutter ist vor Sylt aufgelaufen«, schaltete sich der Typ mit der gelben Brille ein. »Und ihn haben sie drei Seemeilen davon entfernt an der Nordspitze gefunden. Ist doch seltsam.« Er sprach übertrieben deutlich in leichtem Ruhrpott-Dialekt: »Nordspiiitze« und »gefuuunden«.
    »Wieso, der is bei voller Fahrt von Bord gegangen.« Die Amrumerin verzog keine Miene. »Und dass sie den so schnell gefunden haben, is reiner Zufall.«
    |176| »Die haben doch gesagt, das waren Spaziergänger, die ihn an der Nordspitze gefunden haben«, sagte der Rentner von gestern mit dem Stoffbeutel.
    »Lag so ein kleines Stück draußen im Watt. Die dachten zuerst, das wär ’ne Kegelrobbe.«
    Offensichtlich war Kieseritzky, nachdem er von Bord gegangen war, tatsächlich in die Schiffsschraube der »Elsa« geraten. Harry glaubte, sich jetzt sogar an ein unregelmäßiges Geräusch des Motors zu erinnern. Oder lag das Stottern der Maschine nur daran, dass er in der Hektik den Motorregler mehrmals hin und her gerissen hatte?
    Danach musste der tote Kieso von der Strömung ein ganzes Stück nach Norden getrieben worden sein. Doch so genau wusste Harry gar nicht, wo er über Bord gegangen war. Diese ganze Nacht kam ihm sowieso völlig unwirklich vor. Wie ein dunkler böser Traum. Er zündete sich eine Zigarette an und blies den inhalierten Rauch in die Seeluft. Trotz der Erkältung schmeckte ihm die Zigarette. Und er hatte das Gefühl, dass die Nase freier wurde.
    »Vor drei Tagen sind in Seebüll vier Noldes gestohlen worden«, dozierte der Ruhrpott-Typ mit den Mäusezähnen. »Das iis doch kein Zufall.«
    »Vier was bitte?«, fragte der Rentner mit dem Stoffbeutel.
    »Er meint die Bilder. Sie meinen doch die Bilder?«, sagte der Ehemann der Regenhaube.
    »Ja, natürlich, vier Noldes. Kennen Sie das Museum nicht? In Seebüll? Das gehört für mich einmal im Jahr zum Nordseeurlaub immer dazu.«
    |177| »Ach so«, sagte der Opelfahrer abwesend freundlich.
    »Brutaler Raub soll das gewesen sein«, trumpfte der Ruhrpottler noch einmal auf.
    Brutaler Raub? Ist doch lachhaft, dachte Harry. Aber er sagte natürlich nichts. In dem Moment guckte die Ratte ihn durchdringend an. Zumindest kam es ihm so vor.
    »Die vom Polizeiboot haben gesagt, da soll wohl ein Kommissar aus Kiel kommen, der den Todesfall untersucht«, sagte die Amrumerin mit dem Eimer. »Is eben noch mit der letzten Fähre gekommen.«
    »Wieso l-letzten Fähre?«, fragte Harry, der sich zu seinem eigenen Erstaunen jetzt in die Unterhaltung einschaltete.
    »War die einzige heute. Fährverkehr is eingestellt. Wegen dem Sturm.«
    Harry wurde ganz anders. Er und seine Bilder saßen hier auf dieser verdammten Insel fest. Er hatte keinen Schimmer, wann die Fähre wieder fahren würde.
    »Morgen oder

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