Flucht übers Watt
Kieso ohne diesen Ruck gar nicht über Bord gegangen? Zugegeben, er wollte ihn nur zu gerne loswerden. Aber doch nicht gleich umbringen!
Ob der Kutter wohl irgendwo gestrandet und Kieseritzky schon gefunden worden war? Er musste unbedingt am nächsten Morgen das Fahrrad in Steenodde abholen. Und dann sollte er endlich an seine Abreise denken? Mit diesen Gedanken war Harry dann schließlich doch noch mal eingeschlafen.
Morgens sah er zunächst einmal nach den Bildern. Die Rot- und Blautöne des Aquarells mit dem ›Seltsamen Paar‹ hatten eine unglaubliche Leuchtkraft in dem diffusen Morgenlicht, das im Raum lag. Das Wetter draußen wirkte freundlich. Aber das Fenster war |169| beschlagen wegen der feuchten Sachen auf der Heizung. Als er die ›Feriengäste‹ aus dem Schrank herausnahm, bekam Harry einen Schreck. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass die Neckermann-Tüte anders im Schrank stand, als er sie hineingestellt hatte. Er hatte immer darauf geachtet, dass die Plastiktüte oben verschlossen war. Und jetzt war die Tüte offen! Es musste jemand an dem Schrank gewesen sein! Frau Boysen? Wer sonst. Er hatte den Schrankschlüssel gestern nicht mitgenommen, sondern im Zimmer gelassen, versteckt hinter einem der Bettpfosten. Dort musste die Pensionswirtin ihn entdeckt haben.
Er musste die Bilder unbedingt besser verstecken. Nur wo? Immer wieder hatte er das Zimmer nach einem möglichen Versteck abgesucht: Die Tapete mit dem Fachwerkmuster, das durchgelegene Doppelbett und den monströsen Kleiderschrank mit dem Kunststofffurnier im Holzmuster. Mehr Möbel gab es nicht. Mehr hätten in das kleine Dachzimmer beim besten Willen auch nicht hineingepasst.
Dann war sein Blick an dem großen Ölbild über dem Bett hängengeblieben. Es zeigte drei Frauen in friesischer Tracht, beim Kirchgang oder so. Alle drei guckten noch strenger als Pensionswirtin Meret Boysen. Harry hatte das Bild von der Wand genommen. Es war tatsächlich auf Leinwand gemalt. Das wäre eine Möglichkeit. Hinter den drei Friesinnen könnte er zumindest die ›Feriengäste‹ verstecken. Die Aquarelle wären ebenso gut in einem DIN-A 4-Umschlag aufgehoben, den er zusätzlich in eine Zeitschrift steckte. Aber das Ölbild könnte er auf der Rückseite der |170| Leinwand mit den »Amrumerinnen« mit Klebeband befestigen und dann vorsichtshalber vielleicht noch mit Zeitungspapier überkleben. Gleich nach dem Frühstück wollte er sich Kreppband oder Ähnliches besorgen. Das sollte es in dem Zeitungsladen in Nebel doch sicher geben.
Im Frühstücksraum wurde angeregt diskutiert. Lauter als sonst. Harry hörte das, als er die Treppe herunterkam. Er bekam die Worte »Fährmann« und »Gemälde« mit. Langsam holten die Ereignisse ihn ein. Wenigstens war auf den gefliesten Stufen von seinen Fußabdrücken aus der letzten Nacht nichts mehr zu sehen, nicht die geringste Spur eines Krokodilmusters. Frau Boysen hatte offensichtlich frühmorgens gleich die Treppe gewischt.
Die anderen Gäste saßen alle bereits beim Frühstück. Er war wieder der Letzte.
»Auch wieder ’n Eichen, Herr Räräh ... «
Harry verneinte.
»Na, aber Kaffee trinken Sie ja wenigstens.« Meret Boysen kam auf ihren quietschenden Gesundheitsschuhen mit einer frischen Thermoskanne.
»Schläft gern ’n bisschen länger, unser junger Mann.«
»Dann verpassen Sie aber alles!«, riefihm der dicke Hans-Peter zur Begrüßung entgegen, der wieder eine Zeitung vor der Nase hatte. Heute war es nicht die ›Bild‹-Zeitung, sondern der ›Inselbote‹, glaubte Harry zu erkennen.
Der Raum war lichtdurchflutet. Das »Haus des Gastes |171| « und das Wattenmeer dahinter lagen im grellen Gegenlicht. Als er zu Silva Scheuermann-Heinrich guckte, begegnete er sofort ihrem Blick.
»Na, der Tee hätte Ihnen gestern Nacht doch noch gutgetan«, sagte sie mit ihrer quakigen Stimme.
Sie saß hinter einer Müslischale in ihrem Karibikkleid von gestern und starrte Harry an. War ihr Blick noch penetranter als sonst? Ahnte sie etwas? Aber eigentlich guckte sie immer so.
»Verpasst?«, fragte Harry. »Was denn?«
»Der Hubschrauber ist schon zweimal hier rübergeflogen«, sagte Hans-Peter stolz.
»Jaja, zweimal«, bestätigte seine Mutter und blinzelte hinter ihrer verkehrt herum aufgesetzten Brille gegen die hereinfallenden Sonnenstrahlen. »Die suchen wahrscheinlich den Seemann, der vermisst wird. Ist in der Zeitung. Hans-Peter, zeig doch mal.«
Das Sonnenlicht spiegelte sich auf dem Kasten
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