Flucht übers Watt
übermorgen fährt die Fähre schon wieder«, meinte die Amrumerin. »Wenn das nich doch noch ’ne Sturmflut wird.«
Harry fand das alles andere als beruhigend.
»Fisch gibt es heute wieder nicht«, sagte die Fischersfrau, bevor sie eine magere Krabbenkiste auslud. »Bei dem Wetter gestern war er nur ganz kurz nachmittags draußen.«
Der Typ mit der gelben Brille, der auf einmal wieder als Erster in der Reihe stand, blinzelte in die Sonne und zeigte dabei seine spitzen Zähne. Harry schwang |178| sich auf sein Hollandrad und radelte am Watt nach Nebel zurück. Die Sonne schien immer noch. Aber über Föhr hing schon wieder eine dunkle Wolke, in den blauen Himmel zerlaufend wie auf einem Aquarell. Darunter über dem helleren Horizont waren die senkrechten Streifen eines Regenschauers zu erkennen. Der kalte Wind kam direkt von vorn. Im dritten Gang und mit der Erkältung in den Knochen kam er über Schritttempo kaum hinaus. Im Zeitungsladen erstand er ein Klebeband, einen DIN-A 4-Umschlag und den ›Inselboten‹ von heute.
Harry musste den Artikel über den Nolde-Diebstahl sofort noch einmal lesen. Die ersten beiden Seiten hatte das aktuelle Sturmtiefbesetzt. Dass auf der Promenade in Wyk auf Föhr ein Pudel samt seinem Frauchen fast von einem herumfliegenden Strandkorb erschlagen worden war, war hier wichtiger als der Kunstdiebstahl auf dem Festland. Aber auf der dritten Seite glotzte ihm sofort Putzfrau Quarg entgegen.
Bei dem Wind war es gar nicht einfach, zu lesen. Durch eine Bö wurde die Zeitungsseite immer wieder umgeschlagen. Irgendwelche Hinweise auf ihn gab es tatsächlich nicht. Der ›Inselbote‹ nahm die Behauptung des ›Hamburger Abendblattes‹ auf, dass hinter dem Raub ein größerer Kunstdealerring steckte. Außerdem wurde eine Verbindung zu dem Fährmann der W.D.R. konstruiert, der als Kurier oder sonstiger Handlanger fungiert haben sollte. Harry fand diese Spekulationen ganz beruhigend.
|179| Im Zeitungsladen ließ er sich Kleingeld zum Telefonieren herausgeben. Er suchte aus seiner Anoraktasche die Nummer heraus, die ihm Kieseritzky vorgestern gegeben hatte. Maja war sofort nach dem ersten Klingelton dran.
»I-i-ich bin’s, Harry.«
»Harry, du lebst. Gott sei Dank.« Sie wirkte richtig erleichtert, ihn zu hören. Als hätte sie gar nicht mehr damit gerechnet, dass er die letzte Nacht überlebt hatte. »Meine Güte, Harry, was ist passiert? Wo bist du überhaupt?«
»Auf Amrum.« Harry mochte nicht allzu laut sprechen. In Nebel gab es keine richtige Telefonzelle. Nur diesen offenen Münzfernsprecher mitten im Ort, eine Plastikschale, in der der Apparat hing und die beim Telefonieren den Oberkörper halb umschloss.
»Weißt du schon, dass sie Reinhard tot aufgefunden haben?«
»Ja, ich hab es grad eben gehört. Maja, wie schrecklich.«
»Harry, was war los? Ihr seid doch zusammen rausgefahren?«
»Ja. Kieso war ja nicht davon abzubringen. Es war ein wahnsinniger Sturm. Aber irgendwie haben wir es geschafft. Er hat mich auf A-Amrum abgesetzt und ist dann weiter.«
Die Wahrheit konnte er Maja ja schlecht sagen.
»Aber, sag mal, es war doch Wahnsinn, bei dem Wetter gestern rauszufahren. Ich hab das auf der Party gar nicht so mitbekommen.«
»Mir war das erst auch nicht klar.«
|180| Es entstand eine kurze Pause.
»Er hat in letzter Zeit oft so abgedrehte Sachen gemacht«, sagte Maja leise. »Mit seiner Malerei war er auch nicht glücklich. Die meisten Bilder ... Ach, das erzähl ich dir ein andermal. Und mit seiner Trinkerei wurde es immer schlimmer.«
Sie sah das erstaunlich abgeklärt, fand Harry. Das machte es ihm etwas leichter.
»Das muss jetzt alles schrecklich für dich sein. Aber, Maja, ich muss das wissen. Hast du schon mit der Polizei gesprochen?«
»Natürlich. Ich hab Reinhard ja vermisst gemeldet.«
»Mich wird die P-Polizei dann wahrscheinlich auch sprechen wollen.« Harry drehte sich in der Kunststoffschale des Fernsprechers nach beiden Seiten, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand hörte.
»Mit Sicherheit. Ich hab denen ja gesagt, dass Reinhard mit dir zusammen die Party bei Konerdings verlassen hat, um dich nach Amrum rüberzubringen.«
»Weißt du noch, was wir gestern besprochen haben?«
»Harry, was meinst du?«
»Was hast du der Polizei gesagt, wie ich heiße?«, flüsterte er. Durch die Plexiglasscheibe des Fernsprechers beobachtete er ein vorübergehendes Paar und ein Stück dahinter einen einzelnen Mann: den Oberlehrer mit der gelben
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