Flucht übers Watt
Brille. Harry drehte sich schnell weg.
»Harry Heide. Ist doch richtig? Oder? Ich war mir nicht mehr ganz sicher.«
»Ja.« Er war schon etwas beruhigter. »Und, Maja, |181| noch was. Du hast natürlich recht gehabt mit den Nolde-Bildern. Kann ich mich darauf verlassen, dass du das für dich behältst?«
»Was denn für Nolde-Bilder?«, fragte Maja mit gespielter Arglosigkeit.
Dann sagte sie ihm noch, dass sie heute nach Amrum kommen würde, um den toten Reinhard zu identifizieren. Und ob sie sich nicht kurz sehen könnten. Sie würde sich in seiner Pension melden.
Danach wählte Harry noch einmal seine eigene Telefonnummer in Hamburg. Er wollte nach etlichem Klingeln gerade wieder auflegen. Dann wurde doch abgenommen. Diesmal war Ingo Warncke dran.
»Harry, weißt du wie spät es ist?«
»Komm, es ist gleich elf.«
»Was gibt es denn so Wichtiges? Sag mal, wo steckst du überhaupt?«
»Ich hab da eine lukrative Sache laufen. Aber es ist besser, du weißt jetzt nicht mehr. Ich erzähl dir das später.«
Harry wusste, dass Ingo Warncke eine Schwäche für nebulöse halblegale Unternehmen hatte. Er erklärte ihm, dass er den alten Kadett erst mal abschreiben müsste. Das war offensichtlich kein Problem.
»Mach dir keinen Kopf um die Kiste«, nuschelte Ingo und dann etwas munterer: »Harry, hau rein. Wenn die Sache klappt, an der du dran bist, dann machen wir ein großes Essen, und du spendierst uns ’ne Kiste Barolo.«
»Ich wusste, dass ich mit dir rechnen kann. Und |182| grüß ... äh ... Francesca.« Harry wurde allmählich etwas lockerer.
»Francesca, ich sag’s dir, die verschlägt dir die Sprache. Echt.«
Als Harry gerade auflegen wollte, rief Ingo noch: »Und vergiss nicht, du bist zwei Mieten im Rückstand.«
Die Telefonate hatte er hinter sich. Jetzt musste er sich um die Noldes kümmern. Einen Moment lang glaubte Harry, alles im Griff zu haben. Sogar die Halsschmerzen schienen weg zu sein. Aber im nächsten Augenblick hatte er wieder den Eindruck, die ganze Sache wachse ihm über den Kopf. Seine Stimmungen wechselten ständig.
Als er auf dem Fahrrad aus dem Uasterstigh in den kleinen Nebenweg zur »Nordseeperle« einbog, sah er sofort das Auto vor der Tür stehen. Er war durch die Leute auf dem Anleger in Steenodde natürlich auch vorgewarnt. Es war ein Riesenschlitten in Burgunderrot mit Kieler Kennzeichen. Ein Ford »Scorpio«. Das musste der Kommissar sein. Und er kam seinetwegen, da war er sich sicher.
Er wusste gar nicht warum. Er trat in die Pedale und radelte auf dem Sandweg Richtung Watt an der »Nordseeperle« vorbei. Im Vorbeifahren warf er einen kurzen Blick zum Haus. Da war nichts Auffälliges zu sehen. Irgendwann musste er mit dem Kommissar aus Kiel reden. Aber nicht jetzt. Erst mal wollte er seine Gedanken ordnen.
Ziellos radelte er ein Stück Richtung Norddorf. Er |183| lehnte sein Rad gegen einen Zaunpfahl. Fast der ganze Himmel über dem Wattenmeer war jetzt tiefschwarz, das Wasser darunter türkisblau. Zwei Zaunpfosten weiter thronte eine Uferschnepfe mit einem langen Bein auf dem Zaun. Und auf dem Watt standen Austernfischer, ein ganzer Schwarm in Reih und Glied, alle den langen roten Schnabel gegen den Wind gestreckt. Als Harry von dem Weg ein paar Schritte herunterging, flogen erst ein paar Vögel und dann auch alle anderen auf. Die schwarz-weißen Muster ihrer Flügel flatterten kurz auf gegen den Wind. Dann ließen sie sich ein Stück mit ihm wehen und alle gemeinsam, die Schnäbel nach Norden gerichtet, wieder im Watt nieder.
Er drehte noch eine kleine Runde durch den Ort. An dem Friedhof mit den alten Walfängergrabsteinen vorbei und an dem alten Friesenhaus von Peer Schmidt mit dem geschwungenen »P« und dem »S« über dem Eingang hinter der akkurat geschnittenen Ligusterhecke. Aus dem dunklen Himmel fielen vereinzelt ein paar dicke Regentropfen.
Jetzt war der rote »Scorpio« vor der Pension verschwunden. Drinnen lief wieder irgendwo der Staubsauger. Doch Harry hatte die Haustür kaum hinter sich geschlossen, als das Geräusch mit einem langgezogenen Seufzer aussetzte. Im Flur, kurz vor dem Möwenbarometer erwischte ihn Frau Boysen, die plötzlich aus dem Fernsehraum herauskam.
»Herr Heide!«, rief sie ihm hinterher. Zum ersten Mal sprach sie ihn mit richtigem Namen an. Das heißt, natürlich mit dem falschen.
»Grad eben noch war die Polizei da. Für Sie!«
|184| »Die Polizei?« Harry ließ das Klebeband in der geknickten Zeitung
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