Flucht übers Watt
großen Saal erstmals mit den Mädchen von anderen Schulen getanzt hatten. Harry erinnert sich noch genau, wie sie dabei peinlich geschwitzt hatten in ihren Rollis aus Helanca.
Sylt ist dort so schmal, dass man gleichzeitig beide Seiten, Strand und Wattenmeer und weite Teile der Insel überblicken kann. Ein Stück weiter vor dem »Sansibar« steht auf einem Schild »Nur für Porsches«. Aber auf dem Parkplatz stehen nur Opel-Coupés und kleine BMWs.
»Die Leute finden das witzig«, sagt Maja. »Sie kommen hierher, trinken Mineralwasser von den Fidschi-Inseln und kaufen sich Poloshirts mit der Aufschrift ›Sansibar‹ für hundert Euro das Stück. So haben sie das Gefühl dazuzugehören.«
»Ich glaube, ich kenn das noch von früher«, sagt Harry. »Das war doch eher so eine Bretterbude.«
»Ist es immer noch. Aber sie haben inzwischen einen der am besten sortierten Weinkeller Deutschlands, in den Dünen.«
»Erst mal möchte ich Zoe Kampen zeigen.« Harry |226| dreht sich zu ihr um. »Wo Gunter Sachs früher auf seinem Motorrad die Whiskymeile entlangflaniert ist.«
»Gunter Sachs kommt nicht mehr. Augstein liegt auf dem Friedhofin Keitum und Hajo Friedrichs ist auch tot. Stattdessen gibt’s jetzt Charity-Partys mit Cora Schumacher.«
»Wisst ihr, ich muss da nicht unbedingt hin«, winkt Zoe ab.
»Doch, nur einmal kurz durchfahren. Ich will das mal wieder sehen«, sagt Harry. »Auch wo wir damals auf der Party waren. Wie hießen die Leute?«
»Konerdings. Die haben das Haus immer noch. Helga sehe ich öfter auf Vernissagen und so. Er soll wohl ziemlich krank sein.«
Aus den Kampener Kneipen kommt gesampelte deutsche Schlagermusik und in den Gartenbars liefern sich zwei Champagnerfirmen einen Krieg der Sonnenschirme. Statt der Schauspieler und Journalisten sieht man Mittfünfziger, die in ihren türkisen Hemden mit Seidenstickerei und den schmierig mit Gel zurückgekämmten langen Haaren wie Gebrauchtwagenhändler aussehen.
»Aber wisst ihr, was das Schönste war?« Maja fährt im Schritttempo am »Gogärtchen« vorbei, als säßen sie in einem Bugatti und nicht in ihrem verrosteten Benz in Bonbonrot. »Die Bacardi-Party am Strand musste letztes Jahr ausfallen, weil der Sturm einen Abend vorher den Sand abgetragen und sämtliche Außenterrassen abgeräumt hat.« Sie strahlt. »Ha, die Natur ist eine echte Spaßbremse.«
|227| Dann haben sie die Kampener Kneipenmeile auch schon hinter sich gelassen.
»Was ist überhaupt mit Essen?«, fragt Maja. »Wollt ihr Austern? Oder lieber Kaffee und Kuchen bei mir?«
»Wir hatten gestern Amrumer Oysters.«
»Amrumer Austern?«
»Wilde Austern«, sagt Harry. »Die sind doppelt so groß wie eure Sylter.«
»Also Kaffee und Butterkuchen.«
»Butterkuchen sounds good.«
Auf dem Weg statten sie Kieseritzky noch einen Besuch auf dem Friedhofin Keitum ab. Eigentlich hätte Harry sich das gern geschenkt. Doch als Maja den Vorschlag macht, will er sich auch nicht drücken. Er hat ein komisches Gefühl, als sie vor Kiesos Grab stehen. Aber Trauer kann er für ihn nicht empfinden.
Maja hat jetzt ein altes Haus am Rantumer Hafen. Kein Friesenhaus mit Reetdach, sondern ein Backsteingebäude von Neunzehnhundert, das ursprünglich wohl einmal als Werkstatt oder Hafenmeisterei gedient hatte und im Lauf des letzten Jahrhunderts allmählich zum Wohnhaus umgebaut worden war. Sie hat dort ein kleines Atelier und mehrere Ferienwohnungen zur Vermietung. Aus dem Atelier blickt man auf das Rantumer Becken. Maja kocht Kaffee. Und der Butterkuchen ist selbst gebacken.
»Läuft ganz gut das Geschäft, oder?«, fragt Harry. »Machst richtig Kohle mit deinen Matisse-Grafiken?«
»Ach was, das mache ich nur ab und zu mal. Ich |228| lebe vor allem von der Vermietung und von den alten Leuchtturmbildern. Vielleicht habt ihr es ja gesehen, die Plakate und Postkarten hängen hier in jedem Andenkenladen. Die ganze Nordseeküste rauf und runter. Ich hab sogar schon Rechte ins Ausland verkauft.«
»Kieseritzkys alte Leuchtturmbilder?«
»Reinhards alte Leuchtturmbilder! Na ja, die meisten hab ich ja gemalt. Auch als er noch lebte. Und wenn das Geld knapp ist, dann taucht unerwartet immer mal wieder ein Original auf.«
Maja strahlt. Harry und Zoe müssen lachen.
»Wisst ihr, dass da irgendwelche Experten kommen, die das Alter der Farbe und des Papiers oder der Leinwand begutachten, muss ich bei Kiesos Bildern nicht befürchten. So bedeutend war der Leuchtturmmaler Boy Jensen dann auch
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