Flucht vor den Desperados
Wind heulte und ließ die Fensterläden knallen.
Als ich mich daran machte, die B Street zu überqueren, flog ein Teil eines Blechdaches an mir vorbei – auf Höhe meines Halses. Ein Schritt nach links, und das Blech hätte mich einen Kopf kürzer gemacht.
Es schien, als hätte Virginia City selbst es auf mich abgesehen.
Das fliegende Stück Blech ließ zwei Pferde scheuen, wodurch der Verkehr kurz ins Stocken geriet. Das nutzte ich aus und schoss kurzerhand über die schlammige Straße. Auf diesem Teil der B Street gab es keinen Gehsteig, und ich musste einige ziemlich elegante Ausweichmanöver vornehmen, um nicht in den Pferdedung vor dem Mietstall zu treten.
Nur noch ein kleines Stück, dachte ich, dann bin ich in Sicherheit.
Als ich zu laufen begann, blies mir der Wind etwas Dreck in die Augen. Deshalb sah ich auch den Mann in Schwarz nicht.
Er war gerade aus dem Fashion Saloon getreten, stand vor den Schwingtüren und zählte sein Geld, als ich gegen ihn prallte. Einige Goldmünzen fielen auf den Boden. Ich hörte ihn fluchen & spürte, wie er nach mir griff, aber ich hatte mich schon aufgerappelt & rannte weiter.
Doch es nützte nichts – weit kam ich nicht. Ich rannte mit voller Wucht gegen ein Paar steinharte Beine in graugelb karierten Hosen. Der schwarz bekleidete Körper über diesen Beinen war so massiv wie ein Block aus Quarz. Am schlimmsten war das Gesicht. Es war eines der hässlichsten Gesichter, die ich je erblickt hatte. Der Mann trug einen großen schwarzen Schnurrbart, und seine hervortretenden Augen starrten in verschiedene Richtungen.
»Lassen Sie mich durch«, sagte ich.
»Du gehst nirgendwohin, Junge«, sagte er, und schon schaute ich in die Doppelmündung einer gefährlich aussehenden Waffe.
Der hässliche Mann hielt eine dieser großen Le-Mat-Waffen in der Hand, die einige Offiziere der Konföderierten bevorzugen. Es war eine Mischung aus Revolver und Schrotflinte. Der Hauptlauf gab neun große Kugeln vom Kaliber .40 ab, und der untere Lauf verfügte über eine einzelne Ladung Schrot, die meinen gesamten Kopf wegpusten konnte.
»Gib sie zurück«, sagte der Mann mit der Le Mat. Bei dem lauten Heulen des Windes konnte ich seine tiefe Stimme kaum verstehen.
»Was?«, fragte ich. »Was soll ich zurückgeben?«
»Die Goldmünzen, die du Jace gestohlen hast.«
»Ich hab keine Münzen gestohlen«, erwiderte ich.
»Wo wolltest du denn dann so eilig hin?«, fragte er und klang dabei wie ein grollender Bär.
»Ich muss zum Notar«, sagte ich. »Der hat seinen Sitz direkt hinter Ihnen, auf der anderen Straßenseite. Bitte lassen Sie mich durch.«
Der Mann zielte direkt zwischen meine Augen.
»Bist du blöd, Junge?«, fragte er.
»Nein«, erwiderte ich. »Ich bin klug.«
»Warum hast du dann keine Angst?«
»Ich
habe
Angst«, sagte ich. »Ich habe Angst und bin außerdem wütend.«
»Du siehst nicht so aus«, sagte er.
»Das liegt daran, dass ich ein Unfall der Natur bin«, sagte ich.
Die hervortretenden Augen des Mannes weiteten sich, und er sagte: »Hey, Jace. Guck dir das an. Dieser Junge hat ein noch besseres Pokerface als du.«
Der Mann, den ich angerempelt hatte, tauchte neben uns auf. Ich wollte den Kopf nicht umwenden, aber aus den Augenwinkeln konnte ich ihn auch so sehen. Er war groß & schlank & ganz in Schwarz gekleidet, soweit ich es sehen konnte. Er zählte seine Goldmünzen.
»Das hier ist Pokerface Jace«, sagte der Mann. Eines seiner Augen war offenbar aus Glas. »Und mich nennt man Stonewall. Vielleicht hast du von uns gehört.«
»Nein, Sir. Ich habe nicht von Ihnen gehört.« Ich antwortete ihm, ohne mich zu bewegen.
Er drückte den kalten Lauf seiner Waffe direkt zwischen meine Augen.
»Sobald Jace das Zeichen gibt«, sagte Stonewall, »puste ich deinen Kopf quer über die Straße. Glaubst du mir das?«
»Ja, Sir«, sagte ich. »Das glaube ich Ihnen.«
Pokerface Jace schaltete sich ein. »Hast du keine Angst?«, fragte er in einem angenehm gedehnten Südstaatenakzent.
»Doch, Sir.«
»Du siehst nicht so aus.«
Pokerface Jace umrundete uns, damit er mein Gesicht besser sehen konnte. Dabei erblickte ich seine Augen. Sie waren dunkelbraun und ausdruckslos, und plötzlich wurde mir klar, dass ich ihm schon einmal begegnet war. Er war der Spieler, der mich aufgefangen hatte, als ich von der Galerie des Saloons herunterspringen musste. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ein rosafarbenes Baumwollkleid und ein Häubchen getragen. Ich fragte mich, wie lange er
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