Flucht vor den Desperados
auf den Mineneingang zu, immer meinem eigenen langen Schatten mit seinem flatternden Deckenumhang und dem Federhut hinterher.
Der Eingang der Mexiko-Mine war offen, aber verlassen. Ich vermutete, dass die Arbeiter für Sallys Beerdigung freibekommen hatten. Am Eingang lag auf einem groben Holztisch ein halbes Dutzend Kerzen. Ich steckte sie mir alle sechs in meine rechte Hosentasche, damit Walt kein Licht haben würde, um mir zu folgen. Um eine der Kerzen an der Öllampe anzustecken, die im Eingang hing, legte ich nur für einen Augenblick meinen Revolver ab. In meiner Hast kam mir nicht mal der Gedanke, zusammen mit den Kerzen auch die Öllampe mitzunehmen.
Zugleich machte ich auch noch einen anderen schlimmen Fehler, was ich aber erst später bemerkte.
Mit der Kerze in der Hand eilte ich zwischen den Schienenden leeren Tunnel hinab, wobei ich tiefer & tiefer in den Berg vordrang. Meine flackernde Kerze leuchtete mir den Weg.
Es wurde dunkler & dunkler.
Als ich mich umdrehte, konnte ich kein Tageslicht mehr sehen.
Ich verlangsamte meinen Schritt & lauschte, ob Anzeichen einer Verfolgung zu hören waren. Die schrecklich heulende Washoe-Brise war hier verstummt, aber das Blut, das in meinen Ohren rauschte, war fast ebenso laut.
Anfangs standen auf dem Weg noch Petroleumlampen in den Wandnischen, dann war gar nichts mehr zu sehen. Und noch immer ging ich weiter ins Innere des Berges.
Ich musste sechzig Meter zurückgelegt haben, vielleicht noch mehr, als ich einen dunklen Schatten unmittelbar vor dem trüb flackernden Schein meiner Kerze aufragen sah.
Dann hörte ich, wie etwas schnaubte. Etwas Großes.
Mit zitternder Hand hob ich meine Kerze.
Ich blickte in die milchig hellen Augen einer dämonischen Kreatur.
Beinahe wäre ich gleich an Ort & Stelle gestorben. Vor Angst ließ ich fast meine Kerze fallen, aber dann hörte ich das Schnauben eines Pferdes.
Es war ein schwarzes Pony.
Es war an einem hölzernen Rad festgebunden, und ich vermute, an einem normalen Arbeitstag drehte es hier seine Runden, um das Metall aus den tiefen Regionen heraufzuziehen. Heute aber stand es einfach nur da.
»Hey, mein Mädchen«, sagte ich. »Hab keine Angst.«
Meine Stimme klang winzig, als sie im Tunnel widerhallte.
Das Pony verdrehte die Augen. Meine ängstliche Beschwichtigung hatte es nicht gerade beruhigt.
Ich machte einen Schritt voran & streichelte seine Flanke. Sein Fell war rau & staubig, seine Augen milchig im Schein meiner Kerze.
Ich denke, es hatte so lange in der Dunkelheit gestanden, dass es beinahe blind war.
Ich streichelte es noch ein letztes Mal & bewegte mich vorsichtig voran. Mein schwaches Licht zeigte, dass der Tunnel hinter dem Pony weiterging und sich außerdem drei große Höhlen auftaten, an deren Wänden das Quarz glitzerte. Aber keine von ihnen war tiefer als sechs oder neun Meter. Ich konnte sehen, wo sie endeten.
Hier war es warm. Aber es war keine gemütliche Wärme. Es war stickig, als würde einem eine Decke Mund & Nase bedecken und die Luft abschnüren. Außerdem war die Luft feucht. Sie ließ meine gesamte Haut kribbeln.
Das Kribbeln wurde noch stärker, als das Echo von Stimmen hinter mir im Tunnel all die kleinen Haare in meinem Nacken zu Berge stehen ließen.
Jemand war mir in die Mexiko-Mine gefolgt.
Ich musste tiefer hinein.
Ich hielt meine flackernde Kerze hoch.
Dann sah ich es. Eine Leiter, die aus einem Loch im Boden ragte.
Vorsichtig ging ich auf sie zu.
Es war eine schwarze Grube inmitten von schwarzem Gestein.
Im schwachen Schein meiner Kerze konnte ich nicht einmal den Boden erkennen.
Nur die Sprossen, die in die Dunkelheit hinunterführten.
Ich schaute zurück Richtung Eingang & zu dem armen Pferd, das dort stand & darauf wartete, wieder & wieder im Kreis zu gehen. Ich rannte zu ihm zurück & stellte meine Kerze in einem Vorsprung aus Quarz ab. Dann machte ich mit unsicheren Fingern sein Geschirr los, zeigte auf den Weg, auf dem ich gekommen war, & versetzte seinem Hinterteil einen Schlag.
»Los, geh schon, Mädchen«, zischte ich. »Los, geh und erschreck Walt. Auf!«
Gehorsam trottete das Pony Richtung Ausgang. Ich wusste, ein schwarzes Pferd, das plötzlich aus dem Tunnel auftauchte, würde Walt nicht umbringen, aber vielleicht einen so höllischen Schrecken einjagen, dass es ihn zurück ans Tageslicht scheuchte.
Genau dort wäre auch ich am liebsten gewesen: im hellen Tageslicht.
Aber mir war klar, ich musste weitergehen, bis die Arbeiter zurückkamen
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