Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flüchtig!

Flüchtig!

Titel: Flüchtig! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
dieser neuartigen Klaviatur spielen zu können. Er entwarf eine zufällige Auswahlstudie und teilte die Kinder in experimentelle Gruppen und Kontrollgruppen, wobei letztere in normalen Krankenzimmern mit den üblichen Isolierungsmethoden wie Masken und Zelten behandelt wurden. Dazu engagierte er Mikrobiologen, die die Zahl der auftretenden Keime ständig überwachen mußten. Außerdem verschaffte er sich Zugang zu einem Computer bei der technischen Universität von Kalifornien, der Cal Tech, um die Daten dort analysieren zu lassen. Nun konnte es losgehen.
    Bis jemand das Thema einer denkbaren psychologischen Schädigung der Patienten durch diese Art von Behandlung in die Diskussion brachte.
    Raoul versuchte zunächst, das Risiko herunterzuspielen, aber einige seiner Mitarbeiter ließen sich nicht davon überzeugen. Schließlich, meinten sie, gehe es ja darum, Kinder von zwei Jahren an in eine total gefühlsmäßige Isolation zu bringen, Monate in einer Plastikzelle, ohne Hautkontakt mit anderen menschlichen Wesen, getrennt von jeglichen normalen Lebensäußerungen. Eine zum Schutz bestimmte Umwelt, zweifellos, aber auch eine, die dem Kind schweren psychischen Schaden zufügen konnte. Also mußte man sich auch um diese Seite der Angelegenheit kümmern.
    Zu dieser Zeit war ich einer der jüngeren Psychologen im Haus, und man bot mir den Job an, weil keiner der anderen Therapeuten etwas mit Krebs zu tun haben wollte. Und wohl auch, weil keiner besonders scharf darauf war, mit Raoul Melendez-Lynch zusammenzuarbeiten.
    Ich sah es als eine Möglichkeit zu faszinierenden Untersuchungen und zugleich zur Verhinderung emotionaler Katastrophen. Als ich Raoul das erste Mal begegnete und ihm meine Ideen darlegen wollte, warf er mir einen kurzen Blick zu, richtete dann seine Aufmerksamkeit wieder auf das New England Journal und nickte geistesabwesend.
    Nachdem ich mit meiner kleinen Rede fertig war, blickte er auf und sagte: »Sie werden ein Büro brauchen in dieser Abteilung.«
    Es war kein sehr verheißungsvoller Beginn, aber nach und nach gingen ihm die Augen darüber auf, was den Wert einer psychologischen Konsultation betraf. Ich brachte ihn dazu, die Abteilung so zu gestalten, daß jedes Modul Zugang hatte zu einem Fenster und zu einer Wanduhr. Ich setzte ihm so lange zu, bis er die Mittel für einen vollbeschäftigten Spieltherapeuten und einen Sozialbetreuer für die Familien lockermachte. Und ich nahm ziemlich viel Computerzeit in Anspruch zur Ausarbeitung psychologischer Daten. Zuletzt zahlte es sich aus. Andere Krankenhäuser mußten die Patienten wegen psychologischer Probleme bei der normalen Form der Isolation nach Hause schicken, während sich unsere Kinder recht gut darauf einstellten. Ich sammelte Berge von Daten, schrieb mehrere Artikel darüber in wissenschaftlichen Zeitschriften und brachte außerdem eine Monographie heraus, wobei Raoul als Co-Autor mitwirkte. Die psychologischen Entdeckungen stießen auf größere Aufmerksamkeit als die medizinischen Artikel, die über das Projekt geschrieben wurden, und am Ende der drei Jahre war Raoul bereit, die psychosoziale Betreuung mit Begeisterung zu unterstützen, und hatte eingesehen, daß bei aller wissenschaftlichen Arbeit der menschliche Aspekt nicht zu kurz kommen durfte.
    Wir freundeten uns an, wenn auch ziemlich oberflächlich. Manchmal erzählte er mir von seiner Kinderzeit. Seine Familie, ursprünglich aus Argentinien stammend, war in einem Fischerboot aus Havanna entkommen, nachdem Castro ihre Plantage verstaatlicht und den größten Teil ihres Besitzes beschlagnahmt hatte. Er war stolz auf eine Familientradition von Ärzten und Geschäftsleuten. Alle seine Onkel und die meisten seiner Vettern waren Mediziner, wie er behauptete, und in der Familie hatten es nicht wenige bis zu einem Lehrstuhl in dieser Disziplin geschafft. - Natürlich waren alle wahre Gentlemen, bis auf Vetter Ernesto, der sich als mieses Kommunistenschwein entpuppt hatte. Auch Ernesto war Doktor der Medizin gewesen, aber er hatte seine Familie und seinen Beruf im Stich gelassen, um das Leben eines radikalen Mörders zu führen. Kein Wunder, daß Tausende von Narren ihn als einen Ché Guevara verehrten. Für Raoul war und blieb er der verachtenswerte Vetter Ernesto, das schwarze Schaf der Familie. So erfolgreich er auf dem beruflichen Gebiet war, so verheerend sah es in seinem Privatleben aus. Die Frauen waren von ihm fasziniert, wurden aber zugleich durch seinen neurotischen, zwanghaften

Weitere Kostenlose Bücher