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Flüchtig!

Flüchtig!

Titel: Flüchtig! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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wie die Abteile in einem Eisenbahnwagen und voneinander durch Vorhänge getrennt, die auf Knopfdruck geöffnet oder geschlossen werden konnten. Die Wände der vier Kammern waren aus durchsichtigem Plastikmaterial, und die Kammern erinnerten an Eiswürfel mit zehn Quadratmeter Grundfläche.
    Drei der Würfel waren besetzt. Im vierten lagen Spielzeug, Pritschen und Kleidersäcke. Die Innenseite der mit einem Vorhang abgetrennten Wand eines jeden Würfels war ein perforiertes graues Metallschild: der Filter, durch den hörbar die Luft in den Raum geleitet wurde. Die Türen der Kammern waren unterteilt, die untere Hälfte war aus Metall und geschlossen, die obere aus Plastik und offen. Die Mikroben wurden der Öffnung ferngehalten durch die große Geschwindigkeit, mit der die Luft durch die Zellen strömte. Parallel zu den vier Kammern gab es auf beiden Seiten einen Korridor, wobei der hintere für Besucher gedacht war, der vordere für das Krankenhauspersonal.
    Einen halben Meter vor dem Eingang zu jeder der Kammern war eine Zone, die nicht betreten werden durfte, was durch ein rotes Band auf dem Vinylboden angedeutet wurde. Ich blieb dicht am roten Strich vor der Kammer zwei stehen und schaute hinein zu Woody Swope.
    Er lag auf dem Bett, unter der Decke, und hatte den Kopf von uns abgewandt. An der vorderen Wand der Kammer waren Plastikhandschuhe angebracht, die es erlaubten, mit den Händen in die keimfreie Kammer hineinzufassen. Beverly steckte die Hände in die Handschuhe und streichelte dem Jungen sachte über den Kopf.
    »Guten Morgen, mein Schatz.«
    Langsam und mit sichtlicher Mühe drehte er sich herum und starrte uns an.
    »Hallo.«
    Eine Woche bevor Robin nach Japan abgereist war, hatten wir eine Ausstellung mit Fotografien von Roman Vishniak besucht. Die Fotos stellten eine Chronik der jüdischen Ghettos in Osteuropa vor dem Holocaust vor. Viele der Porträts zeigten Kinder, und die Linse des Fotografen hatte ihre kleinen Gesichter heimlich eingefangen, hatte die Verwirrung und das Entsetzen, das sich in ihnen ausdrückte, deutlich wiedergegeben. Die Bilder waren schrecklich gewesen, und wir beide hatten danach geweint.
    Jetzt, als ich in die großen, dunklen Augen des Jungen blickte, der da in dem Plastikwürfel lag, kehrte dieses Gefühl augenblicklich zurück.
    Sein Gesicht war schmal und hager, die Haut spannte sich über die zarte Knochenstruktur und war im künstlichen Licht der Kammer durchscheinend blaß. Seine Augen waren schwarz wie die seiner Schwester und glasig vom Fieber. Das Haar auf dem Kopf war ein dichter, hennafarbener Lockenschopf. Wenn es dazu kam, daß man die Chemotherapie gegen seine Krankheit einsetzte, würden die Locken verschwinden, eine brutale, wenn auch vorübergehende Erinnerung an die schwere Krankheit.
    Beverly hörte auf, ihm das Haar zu streicheln und streckte dem Jungen die behandschuhte Hand entgegen. Der Junge ergriff sie, und ein Hauch eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht.
    »Na, wie geht’s heute morgen, mein Kleiner?«
    »Okay.« Seine Stimme war leise und durch die Plastikwand kaum zu hören.
    »Das ist Doktor Delaware, Woody.«
    Als er den Titel hörte, zuckte der Junge zusammen und legte sich zurück auf das Bett.
    »Er ist keiner von den Ärzten, die Spritzen geben. Er redet nur mit den Kindern, genau wie ich.«
    Das lockerte ihn ein wenig, aber er schaute mich dennoch sehr zurückhaltend an.
    »Hallo, Woody«, sagte ich. »Sollen wir uns die Hände schütteln?«
    »Okay.«
    Ich steckte meine Hand in den Handschuh, den Beverly freigegeben hatte. Er fühlte sich heiß und trocken an, voll Talkum-Puder, dachte ich. Dann faßte ich hinein in die Zelle und fand seine Hand. Ich hielt sie einen Moment lang fest, dann ließ ich sie wieder los.
    »Ich sehe, du hast ein paar Spiele da drinnen. Was spielst du am liebsten?«
    »Dame.«
    »Das spiele ich auch gern. Spielst du oft?«
    »Kann man sagen.«
    »Du bist sicher sehr klug, wenn du Dame spielen kannst.«
    »So ungefähr.« Die Andeutung eines Lächelns.
    »Ich wette, du gewinnst meistens.«
    Das Lächeln wurde breiter. Seine Zähne waren ebenmäßig und weiß, aber das Zahnfleisch sah entzündet und geschwollen aus.
    »Und du gewinnst auch gern.«
    »Mhm. Bei meiner Mama gewinne ich immer.«
    »Und bei deinem Dad?«
    Er schaute mich verwirrt an.
    »Er spielt nicht Dame.«
    »Aha. Aber wenn du mit ihm spielen könntest, würdest du sicher auch gewinnen.«
    Das mußte er erst verdauen. Er dachte darüber

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