Flüchtig!
die sofortige Erfüllung all ihrer Vorstellungen. Kannst du dir denken, was die aus einer solchen Sache machen würden?«
Er hatte rasch von tiefer Verzweiflung auf flammenden Zorn umgeschaltet, und jetzt riß ihn die überschüssige Energie aus seinem Sessel. Er ging mit kleinen, nervösen Schritten einmal durch sein Büro, hämmerte die geballte Faust gegen die andere Handfläche, machte einen größeren Bogen, um den Bücher und Manuskriptstapeln auszuweichen, kam zum Schreibtisch zurück und fluchte auf spanisch.
»Meinst du, ich soll vor Gericht gehen, Alex?«
»Die Frage ist schwer zu beantworten. Du mußt zuvor abwägen und entscheiden, ob es dem Jungen hilft, wenn du damit an die Öffentlichkeit gehst. Hast du so etwas schon einmal durchgespielt?«
»Ja, einmal. Im letzten Jahr hatten wir ein kleines Mädchen bei uns, das Transfusionen brauchte. Die Familie gehörte den Zeugen Jehovas an, und wir mußten erst einen Gerichtsbeschluß herbeiführen, um der Kleinen das Blut übertragen zu können. Aber das war eben doch anders. Die Eltern waren nicht gegen uns. Sie meinten, ihr Glaube würde ihnen nicht gestatten, so etwas zuzulassen, aber wenn sie gezwungen wären, würden sie notfalls gegen ihre Glaubensvorschriften verstoßen. Sie wollten ihr Kind retten, Alex, und sie waren glücklich, als wir ihnen die Verantwortung für die Entscheidung abgenommen hatten. Das Kind lebt übrigens und ist bei bester Gesundheit. Der Swope-Junge würde in absehbarer Zeit auch geheilt sein, statt im Hinterzimmer eines ekelhaften Voodoo-Hexers sterben zu müssen.«
Er rammte seine Hand in die Tasche seines weißen Kittels, zog sie mit einer Packung Salzcrackers wieder heraus, riß die Plastikverpackung auf und knabberte die Crackers, bis die Packung leer war. Nachdem er sich die Brösel aus dem Schnurrbart gezupft hatte, fuhr er fort.
»Selbst im Fall Witness haben die Medien daraus ein Spektakel gemacht und behauptet, wir hätten die Familie praktisch zu ihrer Entscheidung gezwungen. Eine der Fernsehstationen schickte uns ein Arschloch her, das als medizinischer Reporter maskiert war und mich interviewen sollte - vermutlich einer von den Kerlen, die einmal Arzt werden wollten und ihre Vorlesungen und Seminare geschwänzt haben. Er hatte einen kleinen Kassettenrecorder bei sich gehabt und mich mit dem Vornamen angeredet, Alex! Als ob wir miteinander Säue gehütet hätten. Ich hab’ ihn rausgeschmissen, und er stellte daraufhin mein ›Kein Kommentar‹ so dar, als hätte ich dadurch unsere Schuld eingestanden. Glücklicherweise haben die Eltern auf unseren Rat gehört und sich ebenfalls geweigert, mit den Medien in Kontakt zu treten. Woraufhin die sogenannte Kontroverse eines schnellen Todes gestorben ist. Wenn kein Aas vorhanden ist, ziehen die Geier rasch weiter.«
Die Tür, die ins Labor führte, ging auf, und eine junge Frau, die ein Notizbrett in der Hand hatte, kam ins Büro. Sie hatte kurzes hellbraunes Haar, auf Pagenkopf frisiert, runde Augen, die in der Farbe genau ihrem Haar entsprachen, und einen etwas mürrischen Zug um den Mund. Die Hand, mit der sie das Notizbrett hielt, war blaß, die Nägel waren bis zu den Fingerkuppen abgekaut. Sie trug einen Laborkittel, der ihr bis über die Knie reichte, und flache Kreppsohlenschuhe.
Jetzt wandte sie sich an Raoul und sagte: »Da ist etwas, das Sie sehen sollten. Es könnte interessant sein.« Die monotone Stimme strafte die Aussage Lügen.
Raoul stand auf. »Die neue Membran, Helen?«
»Ja.«
»Wundervoll.« Er schaute sie an, als wollte er sie im nächsten Augenblick umarmen, dann plötzlich erinnerte er sich an mich. Er räusperte sich und machte uns miteinander bekannt. »Alex, das ist eine Kollegin von uns, Doktor Helen Holroyd.«
Wir tauschten die üblichen Höflichkeitsfloskeln. Sie näherte sich Raoul und hatte ein besitzergreifendes Funkeln in den hellbraunen Augen. Und er bemühte sich ohne Erfolg, seinen Lausejungenblick zu kaschieren.
Die beiden bemühten sich so sehr, platonisch zu wirken, daß mir zum erstenmal an diesem Tag nach einem Lächeln zumute war. Natürlich schliefen sie miteinander, und natürlich sollte es ein Geheimnis bleiben. Aber ebenso natürlich war es, daß jeder in der Abteilung darüber Bescheid wußte.
»Ich muß weiter«, sagte ich.
»Ja, verstehe. Danke für alles. Vielleicht rufe ich dich an, um die Sache mit der Anzeige zu besprechen. Die Rechnung schickst du bitte an mein Sekretariat.«
Als ich mich umdrehte, fanden
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