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Flüchtig!

Flüchtig!

Titel: Flüchtig! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Schließlich habe ich ihren Sohn tagtäglich mit Nadeln gestochen, habe sein Rückenmark punktiert und ihm das Mark herausgesogen. Wie hätte ich da nicht mit ihr sprechen sollen?«
    Er schaute in seine Salatschlüssel.
    »Melendez-Lynch hat dafür kein Verständnis, ich meine, daß ich mich wie ein menschliches Wesen fühle und nicht wie ein Technokrat im weißen Mantel. Er hat sich nicht einen Moment lang bemüht, die Swopes kennenzulernen, aber er käme nie auf die Idee, daß vielleicht gerade sein Hochmut eine entscheidende Rolle spielte, als sie sich entschlossen, die Behandlung des Jungen abzubrechen. Ich dagegen habe mich exponiert, also bin ich der Sündenbock.« Er schniefte, wischte sich die Nase und trank eines der Gläser mit Wasser aus. »Aber was nützt es jetzt noch, die Sache zu analysieren? Die Leute sind weg.«
    Ich erinnerte mich an Milos Bemerkung über den zurückgelassenen Wagen.
    »Vielleicht kommen sie wieder«, sagte ich.
    »Mann, ich bitte Sie! Die haben doch das Gefühl, daß sie in die Freiheit entkommen sind. Ausgeschlossen - die kehren nicht zurück.«
    »Die Freiheit wird ihnen bald bitter schmecken, wenn die Krankheit des Jungen außer Kontrolle gerät.«
    »Tatsache ist, sie haben alles hier gehaßt. Die Geräusche, den Geruch, das Fehlen einer Privatsphäre, selbst die Sterilität. Sie haben schon in den Strömungskammern gearbeitet, hörte ich?«
    »Drei Jahre.«
    »Dann wissen Sie, was die Kinder dort zu essen bekommen: lauter behandeltes Zeug, überkocht und ungenießbar.«
    Es stimmte. Für einen Patienten mit nicht normal funktionierenden Immunreaktionen war frisches Obst oder Gemüse ein potentieller Überträger tödlicher Mikroben, war ein Glas Milch eine Brutflüssigkeit für den Lactobazillus. Dementsprechend wurde alles, was die Kinder in den Plastikkabinen zu essen und zu trinken bekamen, erst einmal chemisch behandelt, dann erhitzt und sterilisiert, nicht selten bis zu dem Punkt, wo keine biologischen Nährstoffe mehr vorhanden waren.
    »Wir begreifen die Notwendigkeit«, sagte er, »aber die Eltern haben Schwierigkeit, zu verstehen, warum dieses todkranke Kind nicht wenigstens Cola trinken und Kartoffelchips futtern darf, soviel es will. Das geht ihnen gegen den Strich.«
    »Ich weiß«, sagte ich. »Aber die meisten begreifen es dann doch, weil man ihnen klarmacht, daß es sich um eine Frage von Leben oder Tod für ihr Kind handelt. Warum haben die Swopes das nicht kapiert?«
    »Es sind einfache Leute vom Land. Sie kommen aus einer Gegend, wo die Luft noch rein ist und wo man seine eigene Nahrung produziert. Für sie ist die Stadt ein gefährlicher, vergifteter Ort. Der Vater hat ständig gemeckert, wie schlecht die Luft hier sei. ›Ihr atmet doch nichts als Müll‹, hat er mir gesagt, sooft er mich sah. Er hielt es mit der frischen Luft und der natürlichen Nahrung. ›Wie gesund ist es da doch bei uns zu Hause‹, war seine ständige Redewendung.«
    »Aber es war offenbar doch nicht so gesund«, sagte ich.
    »Nein, nicht gesund genug. Ist das nicht ein Frontalangriff auf das gesamte Glaubenssystem dieses Mannes?« Er schaute mich traurig an.
    »Gibt es keinen Begriff in der Psychologie für den Zustand, wenn einem eine ganze Welt zusammenbricht?«
    »Kognitive Dissonanz.«
    »Meinetwegen. Sagen Sie mir«, er beugte sich vor, »was tun die Menschen, wenn sie in einen solchen Zustand geraten sind?«
    »Manchmal ändern sie ihre Weltsicht, und manchmal verbiegen sie die Realität so, daß sie ihren Glaubenssätzen entspricht.«
    Er lehnte sich zurück, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und lächelte.
    »Muß ich mehr dazu sagen?«
    Ich schüttelte den Kopf und versuchte es noch einmal mit dem Kaffee. Er war kälter, aber keineswegs besser geworden.
    »Ich habe immer nur etwas über den Vater gehört«, sagte ich dann.
    »Die Mutter scheint so etwas wie sein Schatten zu sein.«
    »Weit gefehlt! Wenn überhaupt, ist sie die härtere von den beiden. Aber sie ist ein stiller, zurückhaltender Mensch. Sie ließ ihn daherschwadronieren, während sie bei Woody blieb und das tat, was getan werden mußte.«
    »Könnte sie der Beweggrund gewesen sein, daß die ganze Familie plötzlich verschwunden ist?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich will damit nur sagen, daß sie eine starke Frau ist, kein willenloses Anhängsel.«
    »Und die Schwester? Beverly meinte, daß zwischen ihr und ihren Eltern von Liebe keine Rede sein konnte.«
    »Das kann ich nicht beurteilen. Sie

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