Flüchtig!
Drucken an den Wänden und Regalen voll teurer - und zerbrechlicher - Erinnerungsstücke. Nicht gerade der ideale Ort für eine Therapiesitzung mit Kindern, aber ich hatte keine andere Wahl.
Ich stellte ein paar Stühle um, rückte einen Beistelltisch an die Seite und schuf so im Mittelpunkt des Raums eine kleine Fläche zum Spielen.
Dann kramte ich Papier, Buntstifte, Handpuppen und ein tragbares Spielhaus aus meiner großen Tasche und stellte alles auf dem Schreibtisch zurecht. Anschließend ging ich hinaus, um die Moody-Kinder zu holen.
Sie warteten in der Bibliothek: Darlene, Carlton Conley und die Kinder, die wie zum Kirchgang angezogen waren.
April, die Dreijährige, trug ein weißes Taftkleid und weiße Lederolsandalen über den rüschenverzierten Söckchen. Ihr blondes Haar war zu Zöpfen geflochten und wurde von Schleifen zusammengehalten. Sie lag schläfrig auf dem Schoß der Mutter, hatte eine verkrustete Narbe am Knie und lutschte am Daumen.
Ihr Bruder war mit einem weißen Cowboyhemd bekleidet, trug dazu eine braune Kordhose, deren Aufschläge hochgekrempelt waren, eine gebundene, aufzusteckende Fliege und schwarze Schuhe. Sein Gesicht war geschrubbt, das widerspenstige dunkle Haar mit Wasser glattfrisiert, was allerdings nur teilweise gelungen war. Er wirkte so unglücklich in diesem Aufputz, wie ein Neunjähriger nur wirken konnte. Als er mich sah, drehte er sich weg.
»Na, na, Ricky, sei nicht unhöflich zum Doktor«, ermahnte ihn seine Mutter. »Sag nett und höflich guten Tag - Guten Tag, Herr Doktor.«
»Hallo, Mrs. Moody.«
Der Junge rammte die Hände in die Hosentaschen und zog die Stirn in Falten.
Conley, der neben Darlene gesessen hatte, stand auf, schüttelte mir die Hand und grinste etwas schief dazu. Die Richterin hatte recht gehabt.
Abgesehen davon, daß er größer war, sah er genauso aus wie der Mann, dessen platz in der Familie er inzwischen einnahm.
»Doktor«, sagte er schwach.
»Hallo, Mr. Conley.«
April bewegte sich, schlug die Augen auf und lächelte mich an. Bei meinem Gutachten war sie das kleinste Problem gewesen: ein ausdrucksvolles, glückliches Kind. Da sie ein Mädchen war, hatte ihr Vater sie kaum beachtet, und dadurch war ihr seine zerstörerische Liebe erspart geblieben. Ricky dagegen war sein Liebling gewesen, und dafür hatte er am meisten leiden müssen.
»Hallo, April.« Sie schlug die Augen mit den dichten Wimpern auf, senkte dann das Gesicht und kicherte, eine Geste natürlicher Koketterie.
»Erinnerst du dich an die Sachen, mit denen wir beim letztenmal gespielt haben?«
Sie nickte und kicherte wieder.
»Ich hab’ sie mitgebracht. Möchtest du wieder damit spielen?« Sie schaute ihre Mutter an, bat sie wortlos um Erlaubnis.
»Geh schon, Liebling.«
Das Mädchen kletterte vom Schoß der Mutter herunter und nahm meine Hand.
»Wir sehen uns nachher, Ricky«, sagte ich zu dem mürrischen Jungen. Danach verbrachte ich an die zwanzig Minuten mit April und schaute vor allem zu, wie sie mit den kleinen Bewohnern des Spielhauses umging. Ihr Spiel war organisiert, strukturiert und relativ unbeschwert. Obwohl sie einige Episoden der elterlichen Konflikte mitbekommen hatte, gelang es ihr, sie für sich selbst zu lösen. Der Vater hatte das Haus verlassen, damit sie in Glück und Frieden weiterleben konnten. Aus den Szenarios, die sie beim Spielen schuf, sprachen überwiegend Hoffnung und Zielstrebigkeit.
Ich horchte sie aus über die Situation in ihrem Heim und fand, daß sie ein ihrem Alter entsprechendes Verständnis für die Vorgänge aufbrachte. Daddy war böse mit Mami, also lebten sie nicht mehr beisammen. Sie wußte, daß es weder ihre Schuld noch die von Ricky war, und konnte Carlton Conley gut leiden.
Alles stimmte überein mit dem, was ich bei dem ersten Gespräch, der Grundlage meines Gutachtens, erfahren hatte.
Damals hatte sie noch ein wenig Sorge über die Abwesenheit ihres Vaters geäußert und sich erst allmählich an Conley gewöhnen müssen. Als ich sie jetzt nach ihm fragte, strahlte sie mich an.
»Calton is’ so nett, Docka Alex. Er nehmt mich in Tierpahk mit. Wir haben die Diraffe gesehen. Und dann das Kockodihl.« Sie riß die Augen auf, Erstaunen lag darin noch in der Erinnerung.
Danach sang sie weiter ein Loblied auf ihn, und ich hoffte, daß die zynische Vorhersage der Richterin sich als falsch erweisen würde. Ich hatte schon zahllose kleine Mädchen behandelt, die unter qualvollen Beziehungen zu ihren Vätern gelitten oder
Weitere Kostenlose Bücher