Flügel aus Asche
verkrampft hatte, verrieten es. Sie sah sich erneut einer Probe ihrer Vertrauenswürdigkeit ausgeliefert, vielleicht ihrer letzten, und er hatte erlebt, wozu sie die Verzweiflung getrieben hatte. Er hoffte, das Wissen darum, dass er bei ihr war, würde ihr Kraft geben. »Der Rat besteht aus Draquern, und jeder Einzelne von ihnen fühlt sich noch immer überlegen. Dass der Herrscher tot ist, bedeutet nicht, dass auch seine Lehren tot sind. Schickt einen Boten zum Rat, und Ihr werdet nur seinen Kopf zurückbekommen, höchstens ein paar Beschimpfungen dazu.«
Unbehagliches Gemurmel breitete sich im Zelt aus.
»Was sollen wir Eurer Meinung nach tun?«, fragte die Königin. »Gibt es eine Möglichkeit, den Rat zu Verhandlungen zu zwingen?«
»Ich weiß es nicht.« Talanna holte hörbar Atem. »Einige dieser Männer und Frauen leben schon zu lange in Rashija, oder sie sind einfach zu sehr … sie selbst, um irgendwelchen Argumenten zugänglich zu sein.«
Sie meint Charral,
dachte Adeen. »Aber zumindest mein Vater ist nicht dumm, und auch andere nicht. Wenn Ihr sie dazu bringen wollt, Euch zuzuhören, müsst Ihr sie mit dem Gesicht in den Staub werfen, ihnen zeigen, dass ihre Herkunft als Draquer sie nicht zu den Herren der Welt macht.«
Jemand lachte. Es war ein boshaftes, fast erschreckendes Geräusch. Adeen wandte den Kopf und sah Keyla. Ihre dunkle Haut war mit hellbraunem Staub überzogen. »Das übernehme ich gern. Die Haare dieser ehrwürdigen Ratsherren werden sich prächtig an meinem Gürtel machen.«
Talanna erbleichte, aber beim Rest der Anwesenden sorgten Keylas Worte für weniger Empörung, als Adeen erwartet hatte.
»Wir werden sehen, wie weit wir gehen müssen«, sagte die Königin. »Ich bin nicht bereit, das Leben meiner Leute für sinnlose Verhandlungsversuche zu opfern. Es hat schon zu viele Tote gegeben, und wenn jemand die Rolle des Bittenden übernehmen muss, dann sind es die Rashijaner. Lasst uns nun den Angriff planen. Ich will, dass wir die Leben der Bürger schonen, so gut es uns möglich ist.«
»Der Bürger?«, wiederholte Keyla. »Ihr meint, das Leben derer, die das ganze Elend überhaupt erst zugelassen haben? Die haben dem Herrscher und seinen Ideen doch freiwillig gedient. Die verdienen keine Rücksicht. Genauso wenig wie der Rat.«
»Sie haben es
nicht
freiwillig getan«, sagte Adeen leise, dennoch war seine Stimme deutlich zu hören. Aber noch während er sprach, war er sich der Wahrheit seiner Worte nicht mehr vollkommen sicher. Er hatte dem Herrscher nicht freiwillig gedient, auch Rasmi nicht, aber was wusste er schon –
Ein Sturm von protestierenden und zustimmenden Rufen wirbelte über die Versammlung hinweg. Die Königin hatte alle Mühe, sich wieder Gehör zu verschaffen. »Es bleibt dabei«, sagte sie, »ich will, dass wir das Leben der Bürger schonen. Wir dürfen sie nicht dafür büßen lassen, dass sie am falschen Ort geboren worden sind. Wären sie hier auf dem Boden aufgewachsen, würden sie jetzt vielleicht an unserer Seite kämpfen. Was alles Übrige betrifft – wir werden sehen.«
Erst spät in der Nacht verließen sie das Zelt. Während viele der Befehlshaber noch bei der Königin und ihrem fieberkranken Strategen zurückblieben, wurden Adeen und Talanna fortgeschickt, um ein oder zwei Stunden zu schlafen, bevor der Angriff auf Rashija begann. Wenn der Stratege recht behielt, würde es der letzte Angriff sein.
Die Nacht ließ sie vor Kälte und Erschöpfung zittern. Wolkenlos wölbte sich der Himmel über ihren Köpfen, sternenübersät und sonderbar nah und fern zugleich. In Nächten wie diesen glaubte Adeen, die feinen Spuren von Farben zu erkennen, die sich in der Schwärze zwischen den Sternen verbargen. Ihm war, als könne er die Flügel ausbreiten und mitten in den Himmel hineinfliegen, fort von all dem Blutvergießen, das hier am Boden auf ihn wartete.
In dem Zelt, das die Soldaten ihnen zuwiesen, rollte er sich auf der nächstbesten Pritsche zusammen und zog die Decke über sich, während sich Talanna einen Schlafplatz in der Nähe suchte. Seine Ruhestatt war mit abgenutzten Fellen kleiner Tiere gepolstert, die notdürftig vor der Kälte schützten, und hatte vielleicht einmal einem Offizier gehört. War der Mann im Kampf gefallen? Nicht nur diese, sondern auch viele andere Pritschen im Zelt waren leer. Aber bevor er zu viele Gedanken daran verschwenden konnte, schlief Adeen bereits. In seinen Träumen flog er als Vogel über eine brennende Stadt,
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