Flügel aus Asche
wie und wo sie Soldaten in Rashija positionieren wollten, verwarfen sie wieder, und im Lampenlicht sah Adeen noch tief in der Nacht ihre Schatten hinter der Zeltwand streiten. Auch mit Talannas Vater sprach er. Obwohl beide zu verfeindeten Völkern gehörten und sich ihr Alter stark voneinander unterschied, schien der Ratsherr eine Art widerwilligen Respekt für den jungen Strategen zu empfinden, der dazu beigetragen hatte, sein Volk zu besiegen. Und Leret wiederum interessierte sich für die militärischen Kenntnisse der Draquer. Ihre Unterredungen begannen mit wüsten Beschimpfungen und endeten mit erstaunlich gut durchdachten Plänen.
Schließlich erbrachte die Diskussion das Ergebnis, dass während der Besatzung in Rashija eine Übergangsregierung etabliert werden sollte. Talanna, Kuama und einige Männer und Frauen aus dem einfachen Volk Rashijas würden vorläufig einen neuen Rat bilden, bis eine dauerhafte Lösung gefunden werden konnte. Auch Erdgeborene würden dem Rat angehören, Leret selbst und einige Soldaten, die er aufgrund ihres kühlen Kopfes und ihrer Urteilskraft ausgewählt hatte. Schwärmer weigerte sich, diese Ehre anzunehmen. »Ich habe mein Leben lang mit dem Kopf in den Wolken gesteckt«, sagte er, »da will ich wenigstens auf meine alten Tage noch mit beiden Füßen auf der Erde bleiben!«
Adeen half währenddessen den Verwundeten im Lager, so gut er konnte. Er wusste nun, dass ihm seine Herkunft als Erdmagier Heilungskräfte verlieh, die Fähigkeit, Wunden zu schließen und den Geschwächten neue Kraft zu geben, aber es fiel ihm schwer, auf diese Macht zuzugreifen. Zwar befanden sich einige Erdmagier unter den Truppen der Königin, aber niemand von ihnen hatte jemals über so viel Magie verfügt, und sie betrachteten Adeen, den Mischling von Himmel und Erde, nicht ohne Misstrauen. Eine große Hilfe waren ihre halbherzigen Ratschläge deshalb nicht. Wenn Adeen in den Lazarettzelten saß, die nach Essig, verfaulendem Fleisch und Tod rochen, und versuchte, den Aschevogel zu sich zu rufen, kam er häufig nicht. Auf den Gesichtern der Verletzten, die gehofft hatten, durch seine Magie geheilt zu werden, zeichnete sich dann tiefe Enttäuschung ab. Manche brachen in Tränen aus oder beschimpften ihn sogar. Doch auch wenn es Adeen gelang zu helfen – jedes Mal, wenn er das Zelt verließ und den tiefblauen Winterhimmel über sich sah, fühlte er sich erleichtert. Wenn er abends die Augen schloss, sah er Wunden und Blut vor sich, und sein Schlaf war schwarz, ohne Träume vom Fliegen. Er hatte sich schon lange nicht mehr so allein gefühlt.
Aber er musste durchhalten. Jetzt, da er sich über das Ausmaß seiner Fähigkeiten im Klaren war, musste er sie nutzen. Es war seine Pflicht, anderen zu helfen, er durfte auf seine eigenen Vorlieben keine Rücksicht nehmen.
Und noch etwas bedrückte ihn: Nur auf dem Boden würde er diese Erdmagie anwenden können. Wenn er sich also seiner Verantwortung stellte, bedeutete das, dass er und Talanna sich trennen würden. Sobald Rashija wieder in den Himmel aufstieg, würde er auf den Erdmagie-Teil seiner Kraft nicht mehr zugreifen können.
»Du siehst müde aus«, sagte Talanna.
»Ich habe nicht viel Zeit. Saraval wartet schon wieder auf mich.«
»Einer von den Ärzten, nicht wahr? Du hast den Namen schon einmal erwähnt.«
Adeen nickte. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er in ein Tuch gehüllt, und seine Schläfen pochten, weil er wieder nur drei oder vier Stunden Schlaf gefunden hatte. Aber es tat gut, mit Talanna durch den Wald zu wandern, auch wenn es nur für eine halbe Stunde war. Frost hatte die kahlen Zweige der Bäume und Büsche in eine weißglitzernde, empfindliche Märchenwelt verwandelt, fast unwirklich bei dem Elend, das Adeen die letzten Tage gesehen hatte. Er hielt Talannas Hand fest. Vielleicht war es das letzte Mal, dass er es tun konnte. Am nächsten Morgen sollte Rashija wieder in den Himmel zurückkehren.
»Du brauchst dir keine Sorgen über meine Sicherheit zu machen«, sagte Talanna, »ich kann auf mich aufpassen. Außerdem hat Leret jedem Mitglied des Übergangsrats Leibwächter zugeteilt. Das System, das er für ihren Schichtwechsel ausgearbeitet hat, ist genial. Alle drei Stunden …«
Sie sprach über Wachwechsel und Militärstrategie, über Politik und Magie, aber Adeen konnte sich nicht auf ihre Worte konzentrieren. Er betrachtete nur ihr Gesicht, entschlossen, es sich einzuprägen, um es jederzeit zeichnen zu können, wenn er
Weitere Kostenlose Bücher