Flügel aus Asche
Trauer in Adeen aus, dass er nicht weitersprechen konnte.
»Das reicht!«, fuhr Nemiz dazwischen. »Wir alle haben in dieser Nacht Freunde verloren, es geht uns nicht anders als dir. Und was vielleicht noch schlimmer ist: Auch die Bilder konnten wir nicht retten. Aber es nützt nichts, wenn wir uns gegenseitig Anschuldigungen an den Kopf werfen.«
Bei den letzten Worten war seine Stimme laut geworden, das Weiße in seinen Augen leuchtete bedrohlich. Adeen nickte zögernd, mehr, weil er an Nemiz’ Aufrichtigkeit glaubte, als weil er überzeugt war, der Draquerin vertrauen zu können.
»Du bist sicher verbittert, Adeen«, fuhr Nemiz fort, »weil du als Krähe am unteren Ende dieser Rangordnung stehst, die der Herrscher eine Gesellschaft nennt. Aber vergiss nicht, dass unter einer ungerechten Regierung
alle
ungerecht behandelt werden, auch die, die anscheinend Vorzüge genießen. Lass uns jetzt die anderen treffen. Fühlst du dich kräftig genug, um an einer Versammlung teilzunehmen?«
»Ja«, murmelte Adeen. Nemiz’ Worte hatten ihn getroffen, und er wusste nicht, ob er sich für sein Misstrauen schämen oder ob er wütend sein sollte, weil Nemiz Rasmis Tod so abgetan hatte. Sie alle hatten Freunde verloren – das sagte sich so leicht! Rasmi war für ihn wie ein Vater gewesen.
»Gut, dann komm mit. Wir haben viel zu besprechen.«
»Was ist mit meiner Unterkunft, mit meiner Arbeit in der Akademie? Ich muss dorthin zurück!«
»Du sagst, du kennst diesen Charral?«
»In der Akademie habe ich manchmal für ihn gearbeitet.«
»Kannst du sicher sein, dass er dein Gesicht in der Nacht nicht erkannt hat? Wenn du an die Akademie zurückkehrst, hast du uns vielleicht schneller verraten, als dir jemand die Ohren abschneiden kann. Nein, du gehörst jetzt zu uns.«
»Ich bin kein Verräter!« Adeen spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Doch Nemiz hatte sich bereits abgewandt und hinkte auf seinen Krücken davon. Der Mann namens Yoluan zog die Lumpen vor der Tür beiseite, damit er hindurchkonnte, und folgte ihm. Talanna, die Draquerin, warf Adeen einen langen, undeutbaren Blick aus ihren gelbbraunen Augen zu, ehe sie sich ebenfalls zum Gehen wandte.
Unter dem Gebäude zog sich ein Netzwerk von Gängen durch den Fels. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Adeen neugierig nachgefragt, wozu all dies früher einmal gedient hatte, doch jetzt kreisten seine Gedanken um Rasmis Tod und die Rebellen. Sie behandelten ihn freundlich, weil er ihrem Anführer das Leben gerettet hatte, aber nur so lange, wie er nichts tat oder sagte, was ihrer Gruppe zuwiderlief. Natürlich, sie mussten sich schützen und durften sich keine Zweifel erlauben. Aber er fragte sich, was ihm von nun an bevorstand. Würde er nicht früher oder später genauso umkommen wie Rasmi?
Sie erreichten einen großen, runden Raum, dessen Wände über und über mit Nischen bedeckt waren. Verbrannte Schriftrollen und andere verkohlte Gegenstände lagen darin. Schwach fiel rötliches Abendlicht durch die Fensterschlitze ganz oben in den Wänden. In der Mitte glommen zwei Kohlebecken, aber erst aus der Nähe spürte Adeen, dass Wärme von ihnen ausging. Eine große Gruppe Männer und Frauen saß bereits auf Matten um die Kohlebecken, und als Nemiz eintrat, erhoben sich einige und begrüßten ihn. Er stellte ihnen Adeen vor, doch dieses Mal waren die Blicke, die ihn streiften, deutlich kühler.
Vielleicht sehen sie in mir, dem Schreiber und der Krähe, einen Handlanger der Akademie-Magier.
Die meisten der Rebellen wirkten ausgehungert und heruntergekommen. Manche trugen gegen die Kälte mehrere Schichten Kleidung, was einen seltsamen Gegensatz zu ihren abgehärmten Gesichtern bildete. Nur einige wenige waren in guten Tuchstoff und Leder gekleidet. Sie mussten der Oberschicht angehören oder wenigstens für sie arbeiten. Großmutter mochte die Älteste der Rebellen sein, und die zwei Jüngsten waren offenbar noch Kinder, sogar nach den Gesetzen des Herrschers.
Wenigstens sind bei dem Angriff nicht alle umgekommen.
Insgesamt zählte Adeen etwa dreißig und fragte sich, ob Nemiz noch mehr Mitstreiter hatte, die nicht auf der Versammlung erschienen waren. Abgesehen von Talanna schien sich kein weiterer Draquer unter ihnen zu befinden, auch kein Magier – und keine andere Krähe.
Als sich der Anführer auf einer der Matten niederließ, suchte Adeen sich einen Sitzplatz in unmittelbarer Nähe. Die Anwesenheit so vieler Fremder machte ihn nervös. Er war sich
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