Flügel aus Asche
sich wieder Schweigen aus. Alle Blicke wandten sich Nemiz zu.
Aus den Augenwinkeln warf Adeen einen Blick auf Talanna, die reglos dasaß. Nemiz schien ihr zu vertrauen, und auch wenn er selbst das nicht so einfach konnte, war er doch beinahe bereit, ihm Glauben zu schenken. Nemiz wusste wirklich zu reden, und seine klangvolle, leicht heisere Stimme hatte etwas Beruhigendes. Er musste noch immer starke Schmerzen haben und erschöpft sein, doch das merkte man ihm nicht an. Zum ersten Mal fragte sich Adeen, wer dieser Mann sein mochte – offenbar stammte er nicht von der Straße oder aus den Arbeiterquartieren und Armenhütten wie die meisten hier.
»Große Worte spucken kannst du ja«, rief eine junge Frau aus der Menge, »aber wo ist nun dein toller Plan? Bisher ist alles nur schlimmer geworden. Glaubst du, ich setze mein Leben noch mal für einen solchen Mist wie Bilder aufs Spiel? Ich will hier weg, bevor die uns alle schnappen und abschlachten – das hast du uns doch versprochen!«
Zustimmendes Gemurmel folgte ihren Worten und steigerte sich innerhalb weniger Augenblicke zu einem Tumult. Nemiz versuchte nicht, die Versammlung zu beruhigen. Er wartete ab, bis sich der Lärm genügend gelegt hatte, dass er weitersprechen konnte.
»Es war kein Fehler, dass wir versucht haben, die Bilder zu retten«, sagte er ruhig. »Wir hätten damit einen Teil unserer Vergangenheit gerettet. Aber im Augenblick bleibt uns nur noch, nach der Zukunft zu greifen.« Er senkte die Stimme und erklärte, als spräche er von etwas Alltäglichem: »Wenn sich meine Hoffnung erfüllt, dann sind wir alle in weniger als zehn Tagen frei.«
»Frei?«, wiederholte die Frau voller Misstrauen.
»Frei zu gehen, wohin wir wollen, und zu tun, wozu wir Lust haben«, erwiderte Nemiz ernst. »Keine Wachen, keine Gesetze, die uns sagen, was wir denken sollen oder wen wir zu lieben haben. Ich werde diese Stadt verlassen, und ich werde alle mitnehmen, die den Mut haben, mir zu folgen.«
Adeen riss die Augen auf. Diese Worte waren unfassbar – niemand wagte es, Rashija ohne Befehl des Herrschers zu verlassen! Gerüchte besagten, dass manche es versucht hatten, als die Stadt das letzte Mal gelandet war – sie hatten sich bis zum Rand einer der fliegenden Inseln durchgeschlagen, um durch einen tollkühnen Sprung auf den Boden zu gelangen. Lieber wollten sie riskieren zu sterben, als weiter unter dem Regime des Herrschers zu leben. Doch es hieß auch, dass sich jeder, der nicht bereits vorher von den Wachen abgefangen und niedergemacht worden war, bei dem Sprung sämtliche Knochen zerschmettert hatte.
Nach den ersten Momenten schockierter Stille brach erneut Tumult los. Jeder der Anwesenden versuchte, sich Gehör zu verschaffen: Wie wollte Nemiz das schaffen, was sollten sie tun? Adeen schwieg. Nemiz sprach von Freiheit, doch Adeen wusste nicht einmal, ob er daran glauben konnte, dass es so etwas überhaupt gab.
»Aber jeder weiß doch, was mit denen passiert ist, die versucht haben zu fliehen!«, rief ein Mann voller Angst.
»Vertraut den Lügen des Herrschers nicht!«, erwiderte Nemiz. »Eine Flucht ist möglich. Versäumen wir diese Gelegenheit, leben wir für die nächsten fünfzig Jahre als Gefangene des Herrschers und seiner Stadt. Lieber will ich auf dem Boden sterben und bestattet werden, als hier noch als alter Mann die Hand dieses Tyrannen zu lecken! Deshalb lasst uns darüber sprechen, was zu tun ist.«
»Ja, erklär uns den Plan!« Das war Großmutter.
Auf Nemiz’ Wink hin wurden die Kohlebecken zur Seite geräumt, und der Mann namens Yoluan entrollte auf dem Boden eine Karte der Stadt. Alle machten die Hälse lang, um einen Blick darauf erhaschen zu können, auch Adeen. Er wusste, was Karten waren, denn auch sie wurden in der Akademie angefertigt, und er hatte auch schon einige von Rashija gesehen – doch er hätte nicht geglaubt, etwas so Kostbares bei den Rebellen zu finden.
Schwarze Straßen zogen sich über das Papier, die wichtigen Gebäude waren durch Farbpunkte markiert, die in der Innenstadt bunte Haufen bildeten. Um das Zentrum ballten sich die Arbeiterquartiere und die verlassenen Bereiche, aus denen bei der letzten Landung Rashijas Soldaten abgezogen worden waren, ringsum lagen Felder. Die übrigen Inseln gruppierten sich um die Hauptinsel, manche durch Brücken oder mächtige Eisenketten mit Rashija verbunden, die meisten aber durch die pure Kraft der Magie: acht größere, die vor allem der Landwirtschaft dienten, und
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