Flügel aus Asche
keineswegs sicher, dass es sich bei ihnen um Freunde handelte, und das beruhte offenbar auf Gegenseitigkeit. Die Rebellen musterten ihn mit einer Mischung aus abschätziger Neugier und offener Abneigung. Nach allem, was geschehen war, konnte er es ihnen nicht einmal übelnehmen. Und es war ihm im Augenblick auch gleichgültig, was sie über ihn dachten. An Missachtung war er gewöhnt, von wem sie auch kommen mochte.
Talanna, die Draquerin, hatte sich einige Schritte entfernt hingesetzt. Mehrere Rebellen waren von ihr abgerückt, und die Blicke, die man ihr zuwarf, zeugten nicht unbedingt von Wohlwollen. Aber sie achtete nicht darauf und hatte die Augen starr auf Nemiz gerichtet. Auch Adeen ignorierte sie.
Zumindest sieht es so aus, als wäre ich nicht der einzige Außenseiter hier.
»Nemiz!«, rief ein Mann mit wildem Lockenkopf. »Du schuldest uns Erklärungen!« Beifällige Rufe aus der Menge begleiteten seine Worte. »Deinetwegen sind wir jetzt so wenige! Was soll das alles, wie lange willst du noch so weitermachen? Bis wir alle tot sind?«
Nemiz wandte ihm zwar den Kopf zu, doch er wirkte in sich gekehrt, als ob seine Augen ihn gar nicht sähen. Adeen versuchte, diesen Ausdruck zu deuten. Quälten den Anführer Selbstzweifel? Er schwieg, auch als sich mehr aufgebrachte Stimmen einmischten und der Raum schließlich von zornigen Worten schwirrte. Allmählich, als würden alle Rufe an Nemiz’ Schweigen abprallen, verstummte der Lärm.
Und Nemiz begann zu sprechen.
Zuerst blickte er auf seine Stiefel, und die Worte kamen nur stockend aus seinem Mund. Er gab zu, dass die nächtliche Aktion ein Fehlschlag gewesen war, dass sie viele Gefährten verloren hatten. Die Unruhe und das Missfallen der Zuhörer war spürbar, auch Adeen ballte die Fäuste im Schoß. Offenbar hatte es dem Anführer angesichts seines Versagens die Sprache verschlagen. Aber als Nemiz schließlich fortfuhr, spürte Adeen, dass er ihn falsch eingeschätzt hatte. Es war, als würden Nemiz’ Worte ihn einhüllen wie Schneeflocken im Sturm. Sie wirbelten um ihn, trugen ihn davon.
Von den verlorenen Freunden sprach Nemiz, davon, wie sie sich geopfert hatten, um die Vergangenheit von Rashija zu retten. Er sagte, sie seien für die Freiheit von Seelenverwandten gestorben, für die Künstler, die die Bilder einst erschaffen hatten. Er beschrieb die Bilder, und in seinen Worten spürte Adeen die Hoffnung, dass irgendwann neue Kunstwerke entstehen konnten und dass die Menschen von Rashija frei sein würden, wenn sie Nemiz weiterhin unterstützten.
Der Tod von Rasmi und den anderen wurde nicht weniger grauenvoll durch seine Worte. Dennoch löste sich der Schock der Anwesenden ganz langsam. Über einige Gesichter sah Adeen Tränen laufen, und wie gegen seinen Willen spürte er, dass sich auch in ihm etwas veränderte. Er wollte Nemiz helfen. Es hatte etwas Unvernünftiges, aber diese Worte und das Leuchten in den Augen des Anführers ließen ihn an das glauben, was Nemiz sagte. Und er sah, dass es den anderen ebenso erging. Vielleicht waren sie gar keine wilde Bande von Gesetzlosen, wie er zuerst geglaubt hatte, sondern Künstler wie er selbst?
Als Nemiz seine Ansprache beendet hatte, herrschte tiefe Stille im Raum. Nur das Knacken der Kohle und das dünne Pfeifen des Windes vor den Fenstern war zu hören. Fast unmerklich hatte sich eine Atmosphäre der Spannung ausgebreitet, auch Adeen wartete gebannt, was Nemiz als Nächstes sagen würde.
»Unsere Niederlage war kein Zufall«, fuhr Nemiz nach einer kurzen Pause fort, »und mir bleibt keine Wahl, als es auszusprechen: Irgendwie hat Charral, einer der Magieroffiziere des Herrschers, von unserer Aktion erfahren.«
»Was?« Wieder meldete sich der lockenköpfige Mann zu Wort. »Das erzählst du erst jetzt? Ich habe gleich gesagt, dass wir keine Draquer aufnehmen sollen – diese Verräter haben nichts im Kopf, als die Stiefel des Herrschers zu lecken!«
»Und die Krähe?«, fragte eine Frau. »Der Kerl ist neu, und er arbeitet doch für die Akademie –«
Adeen öffnete schon den Mund, um sich zu verteidigen, aber Großmutter kam ihm zuvor. »Seid vernünftig! Wenn wir uns nur alle gegenseitig verdächtigen, kommen wir nicht weiter.«
Das unwillige Gemurmel beruhigte sich etwas, aber nicht vollständig.
»Sie hat recht«, sagte Nemiz. »Bei dem großen Plan, den wir umsetzen wollen, können wir uns das nicht leisten. Mit etwas Glück haben wir bald schon alles überstanden.«
Plötzlich breitete
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