Flügel aus Asche
er noch nie einen Fuß auf diese Insel gesetzt.
Sie kauerten in einer Lücke zwischen den Büschen und berieten über ihr weiteres Vorgehen.
»Wir werden die Ketten lösen, die Gabta an Rashija binden«, ergriff Nemiz das Wort. »Der Mechanismus dazu befindet sich in diesem Turm, genauso wie die Steuerung der Insel. Seht ihr dieses Licht? Diesen Ort müssen wir erreichen. Wenn Talannas Aufzeichnungen stimmen, gibt es einen zweiten Eingang auf der anderen Seite der Insel. Er führt durch ein Vorratslager in den Turm. Dorthin müssen wir.«
Talanna räusperte sich. »Da ist etwas, worüber wir uns unterhalten sollten.«
»Ja?«
»Ich bin nicht mehr sicher, welchen Informationen wir trauen können.« Sie sprach mit flacher Stimme. »Du hast gesehen, was eben passiert ist. Wer weiß, wie lange mich Charral schon verdächtigt, eure Verbündete zu sein? Vielleicht sind mir falsche Informationen zugespielt worden.«
Nemiz schwieg einen Moment, in seinem Gesicht arbeitete es. Bevor er antworten konnte, rief jemand aus der Menge: »Aber sie hat immer beteuert, dass sie schon einmal hier war! Jetzt hat sie uns eine wertlose Karte gebracht und uns benutzt, um aus der Stadt wegzukommen! Ich hab doch gesagt, dass wir keinem Draquer trauen können!«
Adeen ertrug es nicht, das zu hören. »So dürft ihr nicht reden! Eben noch hat sie ihr Leben für uns riskiert!«
Nemiz brachte beide mit einer unwilligen Geste zum Schweigen. »Für so etwas haben wir keine Zeit! Talanna, ich habe dir immer vertraut, und ich tue es auch jetzt. Falls deine Informationen falsch sind, trifft dich keine Schuld. Wir müssen weiter.«
»Es
gibt
einen Hintereingang«, sagte Talanna, »nur weiß ich nicht, ob er wirklich in ein Vorratslager führt. Die Karten, die ich eingesehen habe, besagen das, aber wenn man mich getäuscht hat …« Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann fuhr Talanna fort: »Alle sollten die Schriftzauber bereithalten. Auch meine Macht ist nicht endlos. Wenn ich weiter ohne längere Pause kämpfen muss, halte ich nicht mehr lange durch.«
Nemiz brummte. »Du musst uns ohnehin noch den letzten Zauber beibringen. Aber nicht jetzt. Sehen wir zu, dass wir zu diesem Hintereingang kommen, was auch immer –«
Mitten im Satz verstummte er, und die gesamte Gruppe duckte sich und hielt den Atem an. Vielleicht hundert Schritt entfernt tanzte ein Schwarm von Lichtern durch die Nacht – Laternen. Sie bewegten sich eilig vom Turm aus in Richtung Brücke.
»Weg hier!«, zischte Nemiz, und sie schlichen sich davon, so rasch es das Gebüsch zuließ.
Adeen hatte Schwierigkeiten mitzuhalten. Bei der letzten Rast hatte Yoluan mit mehr gutem Willen als Geschick einen Verband um Adeens Schulter gewickelt und ihm aus ein paar Stoffstreifen eine Schlinge geknüpft, die dafür sorgte, dass er den Arm möglichst ruhig hielt. Das half zumindest etwas gegen die Schmerzen. Eigentlich hätte jemand die Wunde nähen müssen, aber das hatte zu warten, bis sie auf dem Boden waren. Immerhin schien Yoluan nach wie vor fest davon überzeugt zu sein, dass Nemiz sie dorthin bringen würde.
Wenn man die Akademiemagier auch offiziell zu den Truppen des Herrschers zählte, waren nicht alle ausgebildete Kämpfer, so viel wusste Adeen. Viele arbeiteten als Forscher an der Entwicklung neuer Zauber oder anderen, undurchsichtigen Projekten. Adeen fühlte sich körperlich so schwach und ausgelaugt wie noch nie in seinem Leben, aber zugleich meldete sich wieder die hartnäckige Stimme in ihm:
Du darfst nicht aufgeben, auf keinen Fall, du bist schon so weit gekommen, vielleicht bist du schon frei, wenn sich die Sonne das nächste Mal zeigt.
Auf der Insel war nun Unruhe ausgebrochen, aufgeregte Stimmen hallten durch die Nacht, und die Felsen warfen das Echo zurück. Zweimal kam ein Magier in ihre Nähe, der die Umgebung mit Hilfe eines Leuchtkristalls absuchte und dabei einen langen weißblauen Lichtstrahl auf das Gras warf. Beim ersten Mal warteten sie, bis sich die Gestalt in der Robe wieder abwandte, doch beim zweiten Mal näherte sich ein Magier so bedrohlich, dass Nemiz mit einem geflüsterten Befehl zwei seiner Leute auf ihn losschickte. Er war tot, ehe er nach Hilfe rufen konnte, wohl zu überrascht und erschrocken, um seine Zauber einzusetzen. Den Lichtkristall nahmen sie ihm aus der Hand, wischten das Blut ab und hüllten ihn in ein abgerissenes Stoffstück, ehe Nemiz ihn an sich nahm.
Ihr Weg führte nun steil bergab und wollte kein Ende nehmen.
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