Flügel aus Asche
sich umso fester an das Geländer. Da war nichts unter seinen Füßen, nichts unter seinen Händen, nur Luft – nein – er fühlte den Biss des eisigen Metalls, noch hatte er den Halt nicht verloren. Einen Schritt nach dem anderen kämpfte er sich voran, während der Wind an ihm zerrte und ihm mit seiner rauhen Stimme ins Ohr schrie:
Spring! Spring! Spring!
»Nein!«
Adeen hörte sich kaum, der Wind riss ihm die Worte von den Lippen.
Es schien endlos zu dauern, bis sich die Insel Gabta so dicht vor ihm befand, dass er einzelne Grashalme und Adern auf den Felsen unterscheiden konnte. Die Welt kippte, nur undeutlich sah er, wie zwei von Nemiz’ Leuten auf ihn zugestürzt kamen. Sie packten ihn und rissen ihn mit sich. Einer – es war Yoluan – half ihm, sich zu setzen, und redete auf ihn ein. Adeen sah, wie sich sein Mund bewegte, doch er hörte die Worte nur sehr leise. In seinem Kopf brauste der Wind weiter, und ein Vogel schrie.
Yoluan schob Adeen einen weichen Stoffrest in die Hand. »Drück das auf deine Schulter, Krähe! Gut festhalten, hörst du?« Unsanft führte Yoluan seine Hand, und erst, als Adeens Finger seine rechte Schulter berührten, fühlte er, dass der Stoff seiner Robe nass und zerfetzt war. Heiß floss ihm sein eigenes Blut über die Hand – wann war er verletzt worden? Bei dem Kampf? Der Schwerthieb musste ihn schwerer getroffen haben als angenommen.
Der Schreck brachte ihn wieder zu sich.
»Kannst du mich verstehen?«, fragte Yoluan mit besorgtem Stirnrunzeln.
»Ja.« Adeens Stimme war nur ein Krächzen. Er presste den Stofflappen auf die Verletzung. Allmählich ließ die Betäubung nach, und der Schmerz erwachte. »Danke, dass du …«
»He, glaubst du, ich lasse dich einfach liegen? Ich hab dir was versprochen, wenn wir auf dem Boden sind, und das halte ich.«
»Dass du jetzt daran denken kannst!« Adeen verzog das Gesicht, als er versuchte, seinen Arm zu bewegen. »Wo ist …«
»Da kommt er.«
Es war nicht Nemiz, nach dem Adeen hatte fragen wollen. Trotzdem war es gut zu wissen, dass ihr Anführer lebte. Yoluan ließ Adeen zurück und rannte auf Nemiz zu, der trotz seines steifen Beins offenbar viel weniger Schwierigkeiten gehabt hatte, die Brücke hinter sich zu bringen, und half ihm aufs Gras. Augenblicklich scharten sich alle um Nemiz, auch Adeen raffte sich auf.
»Wir trennen die Brücke ab, dann können sie uns nicht folgen.« Nemiz klang heiser, und für einen Moment stützte er sich auf Yoluan. »Schnell jetzt! Gleich lassen die Zauber nach, und bis Verstärkung eingetroffen ist, müssen wir den Turm erobert haben.«
Adeen blickte sich nach Talanna um. Mehr und mehr nahm ihm die einbrechende Nacht die Sicht, aber plötzlich sah er sie: Sie saß auf einer Skada und trieb das Tier in weiten Sprüngen über die schmale Brücke. Sie musste das Reittier eines Soldaten an sich gebracht haben, um Nemiz noch einzuholen. Ein tiefes Gefühl von Erleichterung durchströmte Adeen, gemischt mit Bewunderung für ihre Kühnheit. Die Skada schoss mit gestrecktem Hals vorwärts. Gerade noch rechtzeitig wichen Nemiz’ Leute und Adeen zurück, als Talanna das Ende der Brücke erreichte und mit einem letzten Sprung aufs feste Land setzte. Der Aufprall warf sie aus dem Sattel, und sie landete hart im Gras, während die Skada den Berghang hinaufjagte. Niemand versuchte, das Tier zu halten. Erst jetzt bemerkte Adeen, dass weitere Reiter Talanna gefolgt waren. Offenbar waren einige der Magierkrieger nicht schwer getroffen worden und hatten sich bereits von der Wirkung der Zauber erholt. Auf der Brücke leuchtete ein roter Lichtpunkt auf, wuchs an – ein Feuerball flog direkt auf sie zu, eine lodernde Masse in Schwarz, Rot und Weiß, und schlug krachend in den Hang ein, nur wenige Schritte oberhalb der Gruppe. Adeen spürte die Hitzewelle im Gesicht, roch den beißenden Gestank der Flammen. Das nasse Gras fing kein Feuer, sondern zischte und qualmte nur.
Dumpf hörte Adeen Nemiz etwas brüllen, aber er verstand die Worte nicht und konnte auch nicht genau erkennen, was geschah. Er sah nur, wie Nemiz einen funkensprühenden Klumpen auf die Brücke hinausschleuderte. Einen Augenblick später zerbarst die Konstruktion unter lautem Krachen. Eine Feuerfaust reckte sich in den Himmel empor, so hell, dass sich ihre Form in Adeens geblendete Augen einbrannte. Die Reiter auf der Brücke rissen ihre Tiere herum oder trieben sie nach Kräften vorwärts, je nachdem, wo sie sich befanden, aber sie
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