Flügel aus Asche
sie tief Atem holte. »Durch Nemiz … begann ich allmählich zu zweifeln. Ich dachte immer, vor mir würde ein gutes Leben liegen, aber als ich mit Charral verlobt wurde und mir vorstellen musste, für immer mit ihm zusammen sein zu müssen … Und dann, beim Überfall auf die Lagerhalle, hatte ich Informationen weitergegeben und sah mit an, wie Charral die Menschen dort auf der Straße niedermachte, wehrlos, wie sie waren, Menschen, die ich kannte. Er tötete sogar den alten Mann, Rasmi. Es war abscheulich. Danach hatte ich genug. Das Leben, das der Herrscher für mich vorgesehen hatte, wollte ich nicht mehr. Seine Lehren konnte ich nicht länger unterstützen. Den Rest kennst du.«
Adeen war zumute, als würde der Boden unter ihm wegbrechen. Er hatte keine Worte. Erinnerungen zogen an ihm vorbei: Talanna, die einen Korb mit Schriftrollen auf eine Kiste stellte, die ihm aufhalf, seine Hand in ihre nahm und ihm das Blut abwischte. Talanna, die ihn küsste, ihm die Tunika über den Kopf zog, ihn auf ein Bett aus weichen Nadeln drückte und, die Augen geschlossen, in einem selbstvergessenen Moment wie eine erlöschende Flamme seufzte.
Und er glaubte, nicht mehr atmen zu können.
Dabei war es deutlich, dass Talanna zumindest jetzt die Wahrheit sagte. Oder nicht? Hatte sie seine Liebe zu ihr für ihre Zwecke benutzt? Arbeitete sie nach wie vor heimlich für Rashija und den Herrscher und gab falsche Informationen weiter, um den Angreifern zu schaden, sobald sich ihr die Gelegenheit bot? Wie sollte er ihr je wieder trauen?
Er suchte seine Kleidung zusammen und erhob sich rasch, ehe ihn seine Beine nicht mehr trugen.
»Ich hätte es dir eher gesagt, Adeen. Ich wollte es, glaub mir. Aber du warst immer freundlich zu mir, hast mir dein Vertrauen geschenkt und nie an mir gezweifelt …«
»Und deshalb war ich dir wohl gut genug für ein bisschen Spaß, ja? Eine dumme, verliebte Krähe, die ohnehin keine Kraft hat?« Plötzlich schossen Adeen die Tränen in die Augen, aber vor ihr wollte er keine Schwäche mehr zeigen.
Zehn Schritte genügten, um ihn in den Nebel hineinzutragen, weg von Talanna. Wie ein Geist wanderte er durch die verhüllte Welt und kehrte irgendwann zum Lager zurück. Vor dem Zelt, das er mit Talanna und Yoluan teilte, lagen noch die Waffen, an denen sie gearbeitet hatte, und dort stand der Eimer mit den Stechbeeren. Ein Vogel hockte darauf und tat sich an den Beeren gütlich; er flatterte auf, als Adeen sich näherte.
Er hatte befürchtet, hier auf Talanna zu treffen, aber sie war nirgends zu sehen. Er bückte sich unter den Zelteingang, raffte sein Schlafzeug zusammen und warf es sich über die Schulter. Dann griff er nach dem Eimer. Yoluan würde ihn suchen, ihm Fragen stellen. Sollte er! Trotz allem war Adeen entschlossen, kein Wort über das zu verlieren, was er eben erfahren hatte. Wenn Keyla es herausfand, würde sie Talanna wieder einsperren, sie vielleicht davonjagen, schlimmstenfalls töten. Adeen sehnte sich nicht nach Rache. Alles, was er fühlte, war Verzweiflung darüber, dass er dieser Frau sein Herz geschenkt hatte.
Er suchte Schwärmer, der, wie er wusste, sein winziges Zelt in der Nähe von Keylas im Zentrum des Lagers aufgeschlagen hatte. Von allen Zelten, die er kannte, ähnelte dieses am ehesten einer kleinen Heimat, denn die lederne Außenseite war mit Bildern von Bäumen, Gräsern und anderen Pflanzen bemalt.
Vor dem Zelt hockte Schwärmer und band Kräuter an eine Schnur. Er blickte erst auf, als Adeen direkt neben ihm stehen blieb, und das freundliche Lächeln auf seinem Gesicht erstarrte. »Gütige Götter, Junge, wie siehst du denn aus? Hast du ein Gespenst gesehen?«
»Kann ich bei dir unterkommen?«
Schwärmer kniff die Augen zusammen. »He, wenn ich mich nicht irre, schläfst du in einem schönen großen Zelt zusammen mit deinen Freunden.«
»Jetzt nicht mehr.«
»Streit?«
»Ich will nicht darüber sprechen.«
»Hör mal, das hier ist nicht umsonst ein Ein-Mann-Zelt.«
»Ich brauche nicht viel Platz.«
»Was? So ein langes Elend, wie du bist, wirst du die Füße noch zur Tür rausstrecken müssen!«
»Heißt das ja?«
»Hmm. Aber beschwer dich nicht, wenn dir die Nachtschleicher an den Zehen knabbern. Und lass es dir gesagt sein, ich schnarche furchtbar.«
»Danke, Schwärmer. Das vergesse ich dir nicht.«
Adeen kroch in das kleine Zelt, um sein Schlafzeug abzuladen. Als er den Kopf wieder herausstreckte, begegnete er Schwärmers forschendem Blick, doch
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