Flügel aus Asche
Adeen sprachlos. So viele Kämpfer auf einem Fleck hatte er noch nie gesehen. Es mussten mehrere tausend sein – unmöglich, sie zu zählen. Wie Insekten wimmelten sie durcheinander, ihre Rüstungen färbten das braune Herbstgras schwarz. Sie trugen Standarten mit bunten Abbildungen fremdartiger Wesen. Die meisten gingen zu Fuß, nur wenige ritten auf Skadas. Aus der Nähe konnte Adeen erkennen, dass ihre Rüstungen größtenteils aus dunklem, gehärtetem Leder bestanden. Viele Kämpfer hatten sich Tierfelle über die Schultern geworfen oder gar die Köpfe der Tiere zu Helmen verarbeitet, wie er es schon bei Keyla gesehen hatte, was ihnen ein wildes und beängstigendes Aussehen verlieh. Adeen erschienen die zottigen, reißzahnbewehrten Wesen, von denen die Felle stammen mussten, ebenso fremdartig wie die auf den Standarten. Ihre Waffen waren einfach, Spieße und kurze Schwerter, dazu längliche Schilde, die ebenfalls mit Fell bespannt waren. Der Weg führte ihn mitten durch das Lager, und er wusste nicht, wohin er zuerst blicken sollte. In den braunen Gesichtern der Soldaten sah er überall dasselbe: Anspannung und einen verwegenen Stolz. Doch er befürchtete, dass Leder und Fell gegen die Magie der Truppen Rashijas nur schlechten Schutz bieten würden. Auch wenn die Draquer und Magier auf dem Boden ihre Kraft nicht direkt verwenden konnten, hatten sie immer noch ihre Stäbe, Artefakte und magischen Schriftrollen, deren Zauber die Rüstungen und Schilde ohne weiteres durchschlagen würden.
Die Kämpfer hießen sie freundlich willkommen. Obwohl Adeen ihre Sprache nicht verstand, war das Händeschütteln und Schulterklopfen unmissverständlich. Sie nahmen ihnen das Gepäck ab, kramten Brotkanten und Käsestücke aus ihren Rucksäcken und gaben ihnen zu essen. Bald saß er zusammen mit Yoluan neben einem bärtigen Mann am Feuer, der mit dröhnender Stimme auf ihn einredete und seine Worte mit großen Gesten untermalte – ein Jammer, dass Adeen keine Ahnung hatte, worum es ging. Seine Verwirrung überspielte er mit einem Grinsen. Wenigstens hatte er hier nichts zu befürchten und fand wieder Gelegenheit, sich aufzuwärmen. Er rückte so dicht an das Feuer, dass es fast seine Ärmel versengte.
Gegen Abend erschien Keyla und befahl Adeen, ihr zu folgen. Sie führte ihn ins Zelt der Königin im Zentrum des Lagers, ein imposantes Gebilde aus rotgefärbtem Leder, das mit Bildern eines springenden Raubtiers mit aufgerissenem Maul und gesträubtem Fell verziert war. Einen »Wolf« nannte Keyla es, und nun wusste Adeen auch, aus der Haut welchen Tiers ihre Kapuze angefertigt war. Zwei Männer in struppigen grauen Fellen, die von einem solchen »Wolf« stammen mochten, rollten ihnen den Vorhang vor dem Zelteingang hoch. Das Innere des Zeltes war angefüllt von Menschen. Adeen sah einige von Keylas Leuten, darunter auch Schwärmer – und ein paar Schritte abseits stand Talanna, in ihren Umhang gehüllt. Adeen erkannte sie sofort, auch wenn sie die Kapuze ins Gesicht gezogen hatte und ihm den Rücken zuwandte.
Er schluckte und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sich seine Knie plötzlich sehr nachgiebig anfühlten.
»Das ist er, Hoheit«, sagte Keyla, und das gedämpfte Gemurmel, das das Zelt bei ihrem Eintreten erfüllt hatte, verstummte plötzlich.
In der Mitte des Zeltes stand ein Schreibtisch. Kerzen warfen ihr flackerndes Licht auf eine ausgerollte Pergamentkarte. Hinter dem Schreibtisch saß eine grauhaarige Frau in einem gelbbraun gefleckten Fellgewand, das Kinn auf die Hand gestützt. Sie maß Adeen mit unbewegter Miene. Ein Netz von Falten überzog ihr Gesicht, und eines ihrer Augen war grau verschleiert. Doch trotz ihres Alters strahlte sie Stärke aus. Ein Goldreif um ihre Stirn wies auf ihre Stellung hin und war zugleich der einzige Schmuck, den sie trug. Hinter ihr standen drei Kämpfer, deren Schärpen aus demselben gefleckten Fell bestanden wie das Gewand ihrer Herrscherin. Von ihren Gürteln hingen wuchtige Schwerter. Ein junger Mann hatte sich über die Karte gebeugt und glitt mit dem Finger über das Pergament, während sich seine Lippen lautlos bewegten.
Adeen hatte noch nie einer Königin gegenübergestanden und bemerkte etwas spät, dass eine Respektsbekundung angebracht war. Ungeschickt sank er auf die Knie. Doch als er mit der Stirn den Boden berühren wollte, wie man es in Rashija dem Herrscher und seinen direkten Vertretern gegenüber zu tun pflegte, lachte die Frau freundlich. »Steh
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