Fluegel der Dunkelheit
es allemal erträglicher, als ihn
ganz zu verlieren. »Victor mag dich aufgeben. Ich glaube fest daran,
dass du es schaffst.« Ihre Finger streichelten seinen Arm entlang.
»Du wirst es ihm schon zeigen, nicht wahr?« Eine Weile blieb sie
still sitzen, ließ die letzten Tage Revue passieren.
»Ich liebe dich,
Traian. Die wenige Zeit, die wir miteinander verbringen durften,
waren die glücklichsten Augenblicke meines Leben.« Sie wischte sich
die Tränen aus dem Gesicht. Jetzt sollte sie ihn im Auge behalten,
wie er auf die Absetzung der Medikamente reagierte. Sie schob seine
Augenlider zurück. Beide Pupillen zeigten sich extrem geweitet, von
der Iris ahnte man nichts mehr. Im ersten Moment fielen ihr zwei
Möglichkeiten ein. Entweder war sein Hirndruck gestiegen, in dem
Fall hatte sie die Drainagen zu früh entfernt, oder dies waren
Anzeichen einer Vergiftung.
Vergiftung?!
Hatte Victor Traian
ein Gift verabreicht, bevor sie den Raum betreten hatte? Nach seinem
Auftritt eben traute sie ihm das zu.
»Oh, nein!« Sie
warf sich die Hand über den Mund. Nun musste sie genau abwägen, was
zu tun war. Aber solange sie nicht wusste, was Victor Traian gegeben
hatte, konnte sie wenig unternehmen. Die Pupillenerweiterung sprach
dafür, dass Traians Körper bereits auf die Substanz reagierte und
sie sich längst in seinem Blutkreislauf verteilt hatte. Liana
stockte der Atem. »Luca ist ein Vampir« hallte die Aussage von
Victor in ihrer Erinnerung wider. Vampire brauchten Blut. Eine
Vollblutkonserve musste ihm jetzt helfen und wenn sie nur das Toxikum
verdünnte.
Während die
Blutkonserve in Traians Vene lief, beobachtete Liana abwechselnd den
EKG-Monitor sowie sein Gesicht, seine leicht hervorstehenden
Wangenknochen, die ihn so anziehend machten. Sie streichelte darüber
und stellte sich in Gedanken vor, wie er jeden Moment seine Augen
öffnete. Dann würde sie ihn beruhigen, falls ihn seine Dunkelheit
in Panik versetzte. Sie könnte sanft auf ihn einreden, seine Hand
nehmen und ihm verdeutlichen, dass sie immer für ihn da sein wollte.
Doch wie sollte es dann weitergehen? Traian brauchte rund um die Uhr
Pflege. Sie musste ihren Beruf aufgeben, um an seiner Seite zu
bleiben, aber wer kam für die Kosten auf? Mit diesem Gedanken fiel
ihr Blick auf die restliche Blutkonserve mit dem Aufkleber ›AB
neg‹. Sie dachte an Veit, der die gleiche Blutgruppe mit einem
Negativ-Merkmal aufwies. Sergius Vermutung fand damit ein weiteres
Indiz, Traian war der Vater von Veit. Ob Traian das gewusst hatte?
Womöglich hasste er Veit, weil er ihn immer an den Keller, an die
Versuche erinnerte. Liana prüfte seinen Blutdruck, überprüfte
erneut seine Pupillen. Gott sei Dank zeigte er keine weiteren
Anzeichen einer Vergiftung. Sie hatte Victor zu unrecht verdächtigt,
was aber bedeutete, dass die Pupillenerweiterung auf einen erhöhten
Hirndruck zurückzuführen war. Ihr Puls schnellte in die Höhe. Sie
hatte die Entfernung der Drainagen zu früh angeordnet. Aber nichts
weiter deutete auf ihre Vermutung hin. Eventuell lag es wirklich
daran, dass Traian ein Vampir war und seine Pupillen nicht normal
reagierten. In der Dunkelheit verfügte er über ein wesentlich
besseres Sehvermögen, als sie. Lebhaft war ihr die Wahrnehmung ihrer
Vision aus dem Potsdamer Wald noch in Erinnerung.
Aber das war vorbei.
An Traians Blindheit konnte niemand mehr etwas ändern. Fast eine
Stunde wanderte Liana im Zimmer auf und ab. Immer wieder dachte sie
an Victor, an seine Reaktion bezüglich der Medikamente. Seit sie
alles abgesetzt hatte, schlug Traians Herz ruhig und gleichmäßig.
Sie musste umdenken,
von Mensch auf Vampir. Schließlich traf sie eine Entscheidung. Sie
löste den Tubus vom Beatmungsgerät. »Komm schon Traian, du
schaffst das.« Sie nahm seine Hand, knetete sie ein wenig. »Du
brauchst keine menschliche Technik, um zu leben.« Ungewöhnlich
still war es jetzt, nur das leise Piepsen des EKG-Monitors hallte
durch den Raum. Liana kamen Zweifel. Das war der falsche Weg, den sie
gehen wollte.
Das funktionierte
nicht.
Der Abstand seiner
Herztöne wurde länger. Eine endlos lange Minute verging. Traian
holte Luft. Selbständig. Er atmete. Liana schloss die Augen und
drückte noch einmal seine Hand. Ja! Ein großartiger Fortschritt.
Nun musste es mit ihm aufwärtsgehen. Sie küsste ihn auf die Stirn,
während ihre Hände auf seinen Wangen lagen. »So ist es gut. Ich
weiß, dass du es schaffst. Du bist doch ein Kämpfer!« Mit Tränen
der Freude
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