Fluegel der Dunkelheit
Ungeübten einen großen Vorteil brachte. Zudem war sie sehr
geschickt, nicht jeder kann sich selbst eine Kanüle in die Vene
stechen.
»Großartig,
Hannah! Du bist richtig begabt.« Worüber sollte sie sich noch
sorgen? Veit war hier wirklich in den allerbesten Händen. Das
Wichtigste jedoch war die Hygiene des Portkatheters. Hierfür ließ
Liana genügend Desinfektionsmittel sowie Tupfer da und erklärte
Hannah, wie sie den Port am rechten Rippenbogen von Veit säubern und
wo sie die Kanüle einführen musste.
»Tut ihm das nicht
weh, dieses Kunststoffding unter der Haut?« Hannah zog ihre Stirn in
Falten. Es schien als würde sie sehr mit ihm mitfühlen.
»Nein, Hannah. Jede
Woche seine dünnen Venen anzustechen, wäre viel leidvoller.
Schmerzen bekommt er nur dann, wenn sich dort eine Infektion
ausbreiten kann. Deshalb ist es ganz wichtig darauf zu achten, dass
alles keimfrei bleibt, so wie damals bei deinem externen Fixakteur.«
Das war ein guter Vergleich, mit dem Hannah aus eigener Erfahrung
etwas anfangen konnte. Wie auf Bestellung, zeigten sich am Nachmittag
ersten Anzeichen der Blutarmut bei Veit. Er saß verträumt vor den
Kochtöpfen, die Frau Sperling ihm zu Spielen gegeben hatte, in der
Hand den Schneebesen mit dem er noch vor kurzem so herrlich Krach
gemacht hatte. Sein Gesicht war auffallend blass. Für Liana ein
beruhigendes Gefühl, Veit und Hannah bei der ersten Bluttransfusion
zur Seite stehen zu können und die Aufsicht zu führen. Jetzt, im
Ernstfall, spielte bei Hannah die Aufregung mit. Sie benötigte drei
Versuche, bis sie ihre Vene traf. Veit schien die Prozedur vertraut,
er hielt erstaunlich still, aber vielleicht war er schon zu schwach.
Liana sah nun keine Schwierigkeiten mehr, die Familie mit Veit allein
zu lassen. Sie konnte bedenkenlos zurückfahren. Veit war in den
allerbesten Händen, die sie sich für ihn vorstellen konnte. Nach
dem Abendbrot verabschiedete sich Liana von Familie Sperling. Veit
schlief bereits auf seiner Matratze in Hannahs Schlafzimmer, als
Liana ihm zum Abschied über den Kopf strich. Jetzt musste sie sich
dem Problem mit Bettina stellen, die weiterhin unerreichbar blieb.
Obwohl der Weg über
die Autobahn wesentlich schneller gewesen wäre, wählte Liana die
Landstraße. Im Dunkeln erkannte sie kaum noch etwas von den
Ortschaften und doch genoss sie die Eintracht der Dörfer, Felder und
Wälder. Sie fühlte sich trotz aller Aufregung ausgeruht, freute
sich sogar auf den Dienstbeginn morgen Mittag. Sie fuhr an einem
alleinstehenden Haus an einem Waldrand vorbei. Dann folgte einige
Kilometer nur dichter Wald. Die Baumkronen wuchsen über der Straße
zusammen, sodass es im Licht der Scheinwerfer wie ein Tunnel aussah.
Die Stadtgrenze konnte nicht mehr allzu weit sein. Ein Stück voraus
glaubte Liana am Straßenrand ein Reh, jedenfalls ein Tier zu
erkennen. Sofort nahm sie den Fuß vom Gas und schaltete dann das
Fernlicht runter. Sie schaute kurz in den Rückspiegel, um sich zu
vergewissern, dass kein anderes Auto angerast kam. Zur Sicherheit
drosselte sie die Geschwindigkeit. Zunächst erfasste sie nur wage
Bewegungen in der Dunkelheit, die sie nicht zuordnen konnte. Nur eine
dunkle Silhouette verharrte am Straßenrand. Hoffentlich sprang das
Vieh nicht plötzlich vor ihr Auto. Besser, sie wartete, bis es
verschwand, schließlich hatte sie Zeit. Liana bremste ungefähr
zwanzig Meter vor dem Schatten ab und hielt ihn weiter im Blickfeld.
Für den Moment
stockte ihr der Atem. Das war kein Tier! Eine Gestalt, ein Mensch. Ob
das ein Trick war, um sie aus dem Wagen zu locken, um sie
auszurauben? In Gedanken sah sie sich schon als vermisste Person in
der Fernsehsendung ‚Akte XY ungelöst‘. Man fand das Auto der
Vierundzwanzigjährigen ohne Spuren auf Gewalt.
Liana verspürte
leichte Übelkeit in der Magengegend. Weit und breit keine andere
Menschenseele, sie wäre leichtsinnig, würde sie hier aussteigen. Es
passierten heutzutage so viele Verbrechen, andererseits war sie
Ärztin, verpflichtet Menschenleben zu retten. Was, wenn dieser
jemand dort vorn selbst Opfer einer Gewalttat geworden war und Hilfe
benötigte?
Sie wog ab, was sie
tun sollte, schließlich siegte die Ärztin in ihr. Sie zog die
Handbremse an, um auszusteigen. Im Licht der Scheinwerfer ging sie
noch etwas zögerlich auf die Person zu. Mit jedem Schritt erkannte
sie Einzelheiten. Von der Körperstatur her, die breiten Schultern,
Bartwuchs musste es sich um einen Mann handeln. Er verharrte
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