Fluegellos
»Das kann nicht funktionieren«, wiederholte ich leise und legte meine freie Hand auf seine, die noch immer an meiner Wange lag. »Du kannst nichts dafür. Es ist meine Schuld. Ich …« Ich brach ab und schloss die Augen, als mehr Tränen hinauf schossen.
»Du?«
Ich atmete stockend ein, blinzelte und sah ihn wieder an. »Ich kann dich nicht lieben. Ich kann niemanden lieben.«
Die Sorge auf seinem Gesicht wich Leere. Er strich mit seinem Daumen über meine Wange und ließ seinen Blick über meine Miene schweifen. »Was?«, flüsterte er.
»Ich kann nicht lieben«, wiederholte ich leise.
Valentin schwieg und ließ den Blick über meine Augen schweifen. Ungläubigkeit stand in sein Gesicht geschrieben. Trauer. Verzweiflung.
Ich trat zurück. Er senkte die Hand, ließ mich aber nicht los. »Das konnte ich noch nie und dagegen kann ich auch nichts tun. Das ist ein Teil von diesem Engel in mir.«
Das Lächeln, das so lange von seinem Gesicht verschwunden war, tauchte wieder auf. Aber diesmal war es schwach und traurig. »Deswegen die Bücher«, murmelte er nach einiger Zeit. »Deswegen liest du Tolkien und Heitz. Deswegen findet man bei dir nur Horror und High Fantasy, nichts, was sich hauptsächlich um Liebe dreht.«
Ich nickte langsam und atmete durch. »Stell dir vor, du würdest ein Buch über Folter lesen. Stell dir vor, du würdest jeden Schmerz an deinem eigenen Körper spüren. Jeden Schrei hören. So fühlt es sich für mich an«, sagte ich leise und wischte mir neue Tränen aus dem Gesicht. »Weißt du eigentlich, wie schmerzhaft es ist, über etwas zu lesen, das man nicht selbst spüren kann?«
Valentin ließ mich los und legte sofort seine Arme um meinen Oberkörper. Eine Hand an meinem Hinterkopf drückte er mich an sich und schloss mich mit seiner Wärme ein. Ich gab mich seiner Umarmung vollkommen hin und wünschte mir, dass sie nie endete. Ich fühlte mich sicher und beschützt, abgeschottet von der abartigen Welt, in der ich leben musste. Wie in einem Bunker, dessen Wände jedoch eiskalt waren. Denn neben der Sicherheit, die wie ein lauwarmer Strom durch meine Adern floss, fehlte etwas. Ein anderes Gefühl, eines, nachdem ich mich gerade unendlich sehnte. Ich roch sein Rasierwasser, ein Geruch, in den sich jedes Mädchen sofort verliebt hätte. Jedes Mädchen, außer mir. Ich schluchzte. »Es tut mir leid«, flüsterte Valentin an meinem Ohr und drückte mich noch fester an seinen Körper. »Es tut mir so leid.«
»Du kannst nichts dafür«, hauchte ich und versuchte, mein Schluchzen zu unterdrücken. Es war albern, jetzt so durchzudrehen, wegen einem Schicksal, das mich seit acht Jahren verfolgte. Es war irrational. Unbegründet.
Aber jetzt in diesem Moment bedauerte ich es mehr als jemals zuvor, nicht lieben zu können.
»Diese Liste«, hörte ich Valentin sagen. »Die, nach der ich dich vorhin gefragt habe. Hat sie damit zu tun?«
Ich nickte nur, die Augen geschlossen.
»Gott«, murmelte er weiter. »Du dachtest, dass du das Gott verdankst.«
» Verdanken klingt so positiv«, flüsterte ich. »Es … es kann sein, dass es die ganze Zeit falsch wirkt. Ich mag es nicht, ein Engel zu sein … Ich …« Ich brach ab und musste wieder Luft holen.
»Du hasst es. Deswegen hast du überlegt, wie du es loswirst.«
Ich nickte wieder.
»Gott … Wie hast du das angestellt? Bist du in die Kirche gegangen?«
»Ja«, flüsterte ich. Es tat gut, zu merken, wie gut er mich einschätzen konnte. Es tat gut, seine Stimme zu hören, wie er mich analysierte, wie er mich nicht nur zu bemitleiden schien, sondern mir … helfen wollte.
»Gehirn. Du wolltest zum Psychologen gehen.«
Ich nickte.
»Umfeld. Umzug?«
»Ja. Ich dachte, es gibt hier vielleicht einfach nicht den Richtigen«, brachte ich hervor.
»In Köln? Machst du Witze?« Er lachte leise auf. Sofort spürte ich, wie sich ein schwerer Stein von meinem Herzen hob, als auch ich kurz und heiser lachte. Als mein Lachen verstummt war, kehrte wieder Stille ein, nur durchbrochen vom leisen Sprudeln der Strömung unter uns, dessen Geräusch der Wind zu uns hinauf trug.
Allmählich wurde mein Atem wieder gleichmäßiger.
»Wann hast du diese Liste gemacht?«, fragte er schließlich.
»Vor zwei Monaten. Nachdem sich herausgestellt hat, dass sich mein bester Freund, mit dem ich fast acht Jahre befreundet war, in mich verliebt hat.«
Valentin drückte mich fester an sich. »Emilia ist auch Teil dieser Rechnung, oder?«
Ich atmete ein paar Mal
Weitere Kostenlose Bücher