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Fluegellos

Fluegellos

Titel: Fluegellos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Cardinal
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können umdrehen, wenn du es nicht möchtest«, flüsterte er in mein Ohr. »Wir müssen nicht über die Brücke gehen.«
    Ich war gerührt davon, dass er nicht nachfragte. Dass er mich nicht löcherte, wieso ich vor dieser Brücke zurückschreckte. Es reichte ihm, das oberflächliche Wissen zu kennen.
    Ich ließ mir Zeit mit der Antwort und atmete ein paar Mal tief durch. Die Kraft floss in meine Muskeln zurück und allmählich traute ich mir wieder zu, mich auf meine eigenen Beine zu verlassen. »Nein, ich möchte da rüber«, murmelte ich und löste mich aus seiner Umarmung. Ich ballte die Hände zu Fäusten, um sie am Zittern zu hindern.
    »Wirklich?«
    »Ja.« Es hieß, sich seinen Ängsten zu stellen, war der beste Weg, um sie loszuwerden. Und wenn ich jemals wieder normal sein wollte, war es vielleicht an der Zeit, etwas an den Dingen zu ändern, von denen ich wusste, wie ich sie ändern konnte.
    Dieser Unfall war acht Jahre her. Zeit, die Erinnerungen daran zu überwinden.
    Ich ließ seine Hand nicht los, als ich mich wieder in Bewegung setzte. Mit kleinen Schritten arbeitete ich mich auf die Brücke zu.
    »Kennst du dieses Gefühl, wenn du auf einer Schiffsschaukel bist?«, fragte ich leise, um mich ein bisschen abzulenken. »Dieses fast unangenehme Kribbeln im Bauch?«
    Ich sah ihn aus den Augenwinkeln nicken.
    »Das habe ich immer, wenn ich auf Brücken gehe. Vor allem, wenn unter ihnen Wasser ist. Ganz gleich, ob es eine Holzbrücke über einem Gartenteich oder eine Rheinbrücke ist.«
    Ich spürte, wie er meine Hand fester griff. »Keine Angst«, murmelte er. »Du wirst nicht stürzen. Diese Brücke ist stabil, sehr sogar. Sie hält Züge aus. Tonnen von Liebesschlössern. Da wirst du nicht der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.«
    »Hast du die Brücke mit geplant, oder wieso willst du da so genau Bescheid wissen?«
    Er lachte leise. »Nein. Ich weiß es einfach.«
    »Und ich kann dir trauen?«
    »Immer.«
    Ich schloss die Augen und blieb stehen. Zwei Schritte noch, dann hielt mich nur noch der Beton davon ab, in die Fluten zu fallen. Zwei Schritte noch, dann war der Boden unter mir verschwunden. Ich atmete tief ein und versuchte, jede Panik aus meinen Gedanken zu vertreiben. Es gab keinen Grund, sich zu fürchten, wie Valentin gesagt hatte. Ich war sicher. Die Brücke würde mich halten.
    Ich schlug die Augen wieder auf und zwang meine Beine, die nächsten Schritte zu tun. Dann war unter uns nicht mehr als der Beton, Luft und das kalte Wasser.
    »Geht doch«, hauchte Valentin lächelnd, als ich mich Schritt für Schritt immer weiter geradeaus arbeitete. Mit jedem Meter, den wir zurücklegten, fiel es mir leichter. Ich durfte nur nicht auf das dunkle Wasser achten, das unter uns floss, sondern nur auf den Weg, der direkt vor mir lag.
    »Danke«, murmelte ich und schaffte es gerade, mich wieder einigermaßen zu entspannen.
    Doch dann spürte ich, wie der Boden unter mir zu wackeln begann. Erst nur schwach, dann wurde es immer heftiger. Ich unterdrückte einen Schrei, quetschte Valentins Hand ein und hielt den Atem an. Das war der Moment, den ich gefürchtet hatte.
    Gleich würden wir fallen.
    Gleich würde uns das eisige Wasser umschließen. Ich schloss die Augen und war mit jeder Faser meines Körpers darauf vorbereitet.
    Dann ratterte es laut. Wie, wenn eine Brücke einstürzte.
    Oh Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße!
    »Ssht«, hörte ich Valentin. Ich spürte seine Hand an meiner Wange. »Das ist nur ein Zug. Wenn der drüber ist, ist wieder alles wie vorher.«
    Ich blinzelte und sah mich zitternd zu den Gleisen um. Ein Zug fuhr gerade in den Hauptbahnhof ein.
    Aber hielt die Brücke das aus?
    Ich verharrte noch minutenlang regungslos, nachdem das Beben der Brücke aufgehört hatte. Nirgendwo hörte ich das Krachen der Stützpfeiler, nirgendwo kreischten Menschen. Im Gegenteil. Ein Pärchen ging lachend an uns vorbei.
    »Siehst du?«, lächelte Valentin, als ich mich entspannte. »Das ist kein Grund, sich zu fürchten. Das ist normal.«
    Ich nickte langsam und versuchte, wieder zu laufen. »Danke für deine Hilfe.«
    »Gerne.« Er hielt meine Geschwindigkeit, als hatte er es überhaupt nicht eilig.
    »Was … was machst du eigentlich beruflich?«, fragte ich, als sich Stille ausbreitete und meine Konzentration allmählich wieder dem Abgrund unter mir galt. Ich hatte es gerade geschafft, zehn Meter zu laufen, und fühlte mich immer entspannter.
    »Bis vor zwei Jahren war ich

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