Fluegellos
aufeinander. Er wandte den Blick wieder von mir ab.
Ich nahm tief Luft. Ich ahnte, was er damit sagen wollte.
Er seufzte. »Emilia hat heute Morgen ihr Arbeitszimmer nicht abgeschlossen, als sie im Bad war. Ich habe mir ihre Notizen durchgelesen.
Ich wollte stehen bleiben, aber ich wusste, dass das automatisch wieder dafür sorgen würde, dass mir bewusst wurde, dass ich auf einer Brücke stand. »Du weißt von dem Unfall?«, fragte ich leise.
Er nickte.
Ich schloss kurz die Augen und nickte. »Deswegen sind wir hier, oder?«, fragte ich. »Deswegen hast du so zielstrebig gewirkt und von Anfang an gewusst, dass ich ein Problem mit solchen Brücken habe.«
»Ja. Ich wusste, dass du dich alleine nie dazu überwunden hättest, diesen Schritt zu tun. Ich wollte dir helfen.«
Ich schluckte und ließ seine Hand los. Sofort verschränkte ich die Arme vor dem Oberkörper. Nicht, weil ich wütend auf ihn war, sondern, weil mir kalt war.
»Tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte es dir sagen müssen.«
»Es ist okay«, entgegnete ich. »Es ist nur der Wind.«
Valentin betrachtete mein lockeres, weißes Kleid und reichte mir sofort seine Jacke. Dankbar legte ich sie mir um.
»So hat alles angefangen.« Ich kuschelte mich in den warmen Stoff und ließ den Blick über die Liebesschlösser schweifen, die dicht an dicht gedrängt am Zaun hingen. »Seit diesem Unfall kann ich die Gedanken anderer Menschen hören. Und …«
Und nicht lieben.
Ich schloss die Augen. »Und sie zusammenbringen«, beendete ich.
Valentin blieb stehen und drehte sich zu mir um. Ein vorbeifahrender Zug erleuchtete das Lächeln, das seine Lippen zierte.
»Was?«, fragte ich und erwiderte es.
»Hast du es bemerkt?«
Ich runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Was?«
Er drückte sanft meine Hand und ließ seinen Blick hinter mich wandern. »Wir sind auf der anderen Seite.«
Ich folgte seinem Blick. Wir waren auf dem anderen Rheinufer angelangt, fester Boden befand sich unter meinen Füßen. Die Strecke war mir viel kürzer vorgekommen, als sie war. Seit Valentin begonnen hatte, mir von seiner Freundin zu erzählen, hatte ich das Wasser kaum noch wahrgenommen. Keine schwammigen Beine, kein Schwindel, keine Panikattacken.
Zum ersten Mal seit Jahren berührte ich das östliche Ufer des Rheins.
Ich sah zu ihm auf. »Danke«, flüsterte ich.
Sein Lächeln wurde wärmer. Ich hatte das Gefühl, dass er sich zu mir hinab beugte. »Bitte.«
Sie hat noch umwerfendere Augen als Marlen.
»Valentin …« Ich wich zurück, als ich bemerkte, dass er sich mir wirklich näherte. »Ich … Das kann nicht funktionieren. Das ist … hoffnungslos.« Plötzlich raste mein Herz.
Seine Gedanken.
Das waren gerade seine Gedanken gewesen.
Er hielt inne. »Was?«
»Du und ich. Das ist unmöglich.« Meine Stimme erstarb, als sich ein Kloß in meinem Hals bildete.
Er lächelte weiter und ließ meine rechte Hand los, um mit seiner über meine Wange zu streichen. »Wegen Emilia?« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, ein warmer Windhauch, der meine Haut streichelte. »Mach dir um sie keine Gedanken.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. Das war der Moment, in dem ich realisieren sollte, dass ich mich in diesen Mann verliebt hatte. In dem mir Emilia egal sein sollte, weil sie Valentin egal war, weil sie nicht die Freundin war, die er verdient hatte. In diesem Moment sollte mein Bauch kribbeln, wie ausgefüllt von einem Schwarm Schmetterlinge, und pures Glück durch meine Adern strömen. Aber das war nicht der Fall. Ich spürte gar nichts, bis auf tiefe Trauer, die sich bis in meine letzte Zelle fraß. Sein Lächeln war wunderschön, die Art, wie seine Augen mitzulächeln schienen, noch mitreißender. Er war der Mann, von dem jedes Mädchen träumte. Der lang ersehnte Prinz auf seinem Ross. Und ich war wohl das einzige Mädchen, das ihm nicht verfiel.
Weil ich es nicht konnte.
Nur noch Zentimeter trennten unsere Lippen voneinander, als meine Sicht verschwamm und sich eine Träne ihren Weg an die Abendluft bahnte. Sie hinterließ eine kalte Spur auf meiner Wange, die sich noch kälter anfühlte, als Valentins Atem auf meine Haut traf.
Das Lächeln erstarb, als er sie bemerke.
»Es tut mir leid«, hauchte ich und versuchte, meine Hand aus seiner zu lösen. Aber er wollte sie nicht loslassen.
»Nina?«, fragte er, ohne seinen Blick von der Träne zu lösen, die in meinem Mundwinkel ruhte. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
Ich schüttelte den Kopf.
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