Fluegelschlag
Amulett und entspannte sich. Zu sehen war das schmale Holz nicht, denn ihr Kleid war hochgeschlossen, mit langen durchbrochenen Ärmeln, durch die ihre helle Haut silbern schimmerte. Es schloss sich wie eine Fessel um Junas Fußknöchel.
»Darin kann ich keinen Schritt gehen!«
Die Schuhe, die man ihr zugedacht hatte, entpuppten sich als eine Kombination aus Plateausohlen und einem schwindelerregend hohen Absatz, die zu tragen das Geschick eines Artisten verlangte. Doch das wirklich Abenteuerliche daran waren die schmalen Bänder, mit denen sie offenbar befestigt werden sollten. Die Katzenschwestern
ließen sich nicht beirren, und Juna bemerkte eine gewisse Ungeduld in ZinZins Verhalten. Beinahe so, als fühle sie sich von irgendetwas gehetzt. Sie kniete nieder und hielt ihr den Schuh hin. »Komm schon, sie machen spektakuläre Beine.« Sie ergriff Junas Fuß und schob ihn in das Gewirr aus Schnüren und Knoten. Im Nu stand sie wieder auf und fuhr sich mit der Pfote über das rechte Ohr. »Jetzt lauf mal ein Stück.«
Wider Erwarten war es kein Problem. Im Gegenteil, Juna fühlte sich gut, geradezu sexy, ihr Gang erhielt durch die Schuhe eine sehr erotische Komponente. Die Bänder reichten bis über ihre Knie und gaben erstaunlicherweise Halt. Nach ein paar Schritten bemerkte Juna die Schuhe kaum noch. Sie war nun ein gutes Stück größer als ihre beiden felinen Stylistinnen. Sie hob den Kopf und hätte sich gern in einem Spiegel betrachtet. Wahrscheinlich bestand sie nun wie ein Fohlen hauptsächlich aus Beinen.
Der Saum bewegte sich um ihre Fußgelenke wie Algen in der Strömung, und ein beunruhigend langer Schlitz über dem linken Bein gab bei jedem Schritt den Blick auf die kunstvolle Verschnürung ihrer Schuhe frei. ZinZin und Bébête ergriffen je eine ihrer Hände und führten sie hinaus in eine Welt, wie Juna sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Einer Königin gleich, die vom Balkon ihres Palasts hinunterschaute, stand sie auf der Brücke. Die Farben des Himmels , war ihr erster Gedanke. Vom Blau eines klaren Sommertags über das zarte Rosé des Sonnenaufgangs bis zum dramatischen Violett, das den Tag am Horizont verabschiedete, war alles vorhanden, floss ineinander, veränderte sich laufend, schwebte, züngelte, floss dahin wie ein träger Fluss.
Sie hätte sich darin verlieren können. Doch ZinZin drängte sie, weiterzugehen. Bébête tollte vor ihnen her. Mal schlich sie wie ein Stubentiger auf der Jagd, mal sprang sie wie eine Akrobatin und vollführte Salti in der Luft, doch immer landete sie lautlos auf ihren Füßen, auch mal auf allen vieren, die nun wieder großen Katzenpfoten glichen.
Juna folgte ihr. Sie schritt den Steg hinunter und sah all das Licht, ohne zu begreifen, woher es kam. Die Wände befanden sich weiter hinter jenem Punkt im Raum, an dem sie sie erwartet hätte. Mit den Farben veränderten sich ständig die Dimensionen. Mal fühlte sie sich beinahe beengt in einem winzigen Raum, dann wieder gaukelte ihr dieses Spiel der Sinne unendliche Weite vor. Sie hätte springen und rennen können vor Freude, schritt rasch voran auf der Suche nach neuen Eindrücken, jetzt schon süchtig nach der Schönheit, nach einer neuen Wirklichkeit. Natur und Physik tanzten zu den Klängen traumhafter Magie. Einmal stolperte sie und suchte Halt an der Wand neben sich. Diese Wand, so lernte sie, war keine Wand. Ein Nichts. Leere. ZinZin griff nach ihr, bevor sie in die Unendlichkeit stürzen konnte.
Vorsichtiger ging sie weiter und entdeckte den feinen Streifen, der ihnen den Weg wies. Lichte Linien warnten vor klaffenden Abgründen. Kam man ihnen zu nahe, ertönte ein heller Laut, fremdartig und knapp unter der Hörschwelle. Und sie begriff, dass sie beim Übertreten der Grenzen ins Nichts stürzen würde, und diese Schranke würde dazu pfeifen. Neugierig drang sie immer weiter in den Lichterzauber vor.
Vom Farbspiel geblendet, bog sie schließlich in eine dunklere Region ab. Für ihre Augen war das blasse Zwielicht
eine Erholung, ihre Stimmung allerdings sank um einige Grade. Mit dem Licht schwand auch die Euphorie, und als sie bemerkte, dass die Katzenfrauen verschwunden waren, entstand ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend. »ZinZin?«
»Was haben wir denn da?« Anstelle der Katzenfrau antwortete ihr eine Männerstimme.
O nein, nicht schon wieder! , dachte Juna. »Sehe ich aus wie eine Neutrum?« Sie sah sich suchend um, konnte aber nichts erkennen außer einem merkwürdigen Flimmern der Luft.
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