Fluegelschlag
hieß es. Angenommen von der Frau, die er Mutter nannte, weil ihr eigene Kinder versagt geblieben waren - und ohne Argwohn akzeptiert von einem Vater, der glauben wollte, dass er sein Sohn und legitimer Nachfolger war. Tatsächlich besaßen die beiden große Ähnlichkeit: die sonnengeküsste Farbe ihrer Haut, die hochgewachsene Gestalt, selbst die Art, wie sich beide das dunkle Haar aus dem Gesicht strichen, war bemerkenswert ähnlich.
Niemand konnte sagen, wo die Quelle der üblen Reden lag, aber Arian wusste, wie alle anderen Mitglieder des Haushalts auch, dass seine Mutter ihre Schwangerschaft im Hause ihrer Schwester verbracht hatte, die sehr zurückgezogen lebte. Erst als Arians Vater ein knappes Jahr später siegreich heimgekehrt war, kam auch sie zurück und präsentierte ihm den langersehnten Sohn.
Arians Eltern hatten sich vom ersten Tag an geliebt, und diese Liebe war es, die Arian auch für sich selbst suchte. Deshalb zögerte er, die Tochter eines mächtigen Rivalen seiner Familie zur Frau zu nehmen, über die nicht viel Gutes zu hören war, obwohl jedermann ihre Schönheit pries.
Doch der Vater - wiewohl verständnisvoll - drängte auf eine baldige Vermählung, denn der Frieden war gefährdet, und er brauchte Verbündete.
Arian zog sich in die Abgeschiedenheit der heimatlichen Wälder zurück, weil er hoffte, dort zu einer richtigen Entscheidung zu finden.
Er liebte die Jagd, und als er eines frühen Morgens auf der Pirsch war, erblickte er auf der Lichtung vor seinem Lager ein wundersames Tier, das ihm furchtlos entgegentrat. Es besaß die Gestalt eines Pferds und die Schwingen eines Adlers. Arian ließ den bereits gespannten Bogen sinken.
Eine Frau glitt vom Rücken des Pferds und landete leichtfüßig auf dem weichen Waldboden. Sie war in weiße Gewänder von einer Pracht gekleidet, wie sie Arian noch nie zuvor gesehen hatte. Ihr Antlitz strahlte wie polierter Alabaster, und als sie näher kam, bemerkte er, dass auch sie Flügel besaß.
»Deine Zeit ist gekommen, Arian«, sagte sie mit einer Stimme, die wie Honig über Arians Seele floss.
»Wer bist du? Woher kennst du meinen Namen?« Ungeschliffen und rau kam er sich im Vergleich zu ihr vor.
Das geflügelte Pferd schüttelte die lange Mähne, als lachte es über seine Frage, sie aber sah ihn liebevoll an. »Ich bin Nephthys und ich kenne deinen Namen, weil ich es war, die ihn einst für dich ausgewählt hat.«
Und dann erfuhr er Dinge über seinen leiblichen Vater, die so ungeheuerlich waren, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb.
»Du hast die Wahl«, sagte sie schließlich. »Er wird bald kommen, um dich in die Dunkelheit zu führen. Damit wäre dein Schicksal besiegelt.«
»Warum erzählst du mir das?«, wollte Arian von der Fremden wissen und hoffte insgeheim auf einen Ausweg. Er hatte niemals daran geglaubt, dass es nur eine Wahrheit geben könne, nur einen Weg zum Ziel, nur ein Glück.
Jetzt lachte sie, als wäre sie erfreut über seine Frage. »Wenn du mir folgst, verspreche ich deinem Volk einhundert Jahre Sicherheit, und ich will dich vor der Finsternis schützen, bis du gelernt hast, es selbst zu tun.«
Ein mächtiges Rauschen hob an, der Himmel schien sich zu verdunkeln, obwohl keine einzige Wolke zu sehen war. Die Bäume knackten und bogen sich wie in einem Sturm, der die Lichtung noch nicht erreicht hatte.
»Schnell! Du musst dich entscheiden, sonst ist es zu spät.« Arian hatte gezögert, aber als ein erster Luftzug den Saum ihres Kleids anhob und ihm gleich darauf wie heißer Atem in den Nacken fuhr, ergriff er voller Sorge um ihr Wohlbefinden die ausgestreckte Hand, schwang sich auf den Rücken des Pferdes, zog sie zu sich hinauf und rief dem Tier zu: »Bring uns von hier fort!«
Arian wusste nicht, warum Nephthys ihm damals die Erinnerungen genommen hatte und warum sie nun zurückgekehrt waren. Bedeutete es, dass sie sich von ihm abgewandt hatte, oder glaubte sie, er sei endlich bereit, sich selbst vor der Finsternis zu schützen?
Lieber wäre es ihm gewesen, er hätte in diesem Augenblick Juna schützen können, denn es gab eine Verbindung zwischen ihnen, die für Arian schmerzhaft und beglückend zugleich war: Er spürte ihren Schmerz, wusste, wann sie Angst hatte; und wenn sie glücklich war, sah er ihr bezauberndes Lächeln vor sich.
Er machte sich große Sorgen um ihr Wohlergehen, aber es war ihm untersagt worden, sie über seine Mission zu informieren. Juna litt unter ihrer Trennung ebenso wie er,
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