Fluegelschlag
Gesicht … und fand sie. Die gerade Linie seines Unterkiefers, die hohen Wangenknochen, das dunkle Haar. Juna war nicht glücklich über das, was sie sah. Die beiden waren sich zweifellos ähnlich, wenn auch ein argloser Betrachter sie für Brüder gehalten hätte. Denn auf den ersten Blick schienen sie höchsten ein paar Jahre auseinander zu sein. Tatsächlich waren es Äonen - und Juna hoffte, auch Welten -, die sie trennten.
Langsam kam er näher. Juna bemerkte auf einmal das feine Gespinst aus Linien, die das jugendliche Gesicht ihres Gegenübers überzogen und an die Risse im Boden eines ausgetrockneten Flussbetts erinnerten, wenn man sie aus der Perspektive eines Adlers betrachtete. Oder eines Engels.
Zu ihrem Entsetzen kam er direkt auf sie zu und streckte schon die Hand aus, um sie zu begrüßen. Juna zitterte nicht einmal, so starr war sie vor Angst. Seine Nähe reichte aus, um ihr das Herz abzudrücken. Sie fühlte sich wie die Taube im Angesicht des Drachen. An Flucht war überhaupt nicht zu denken - er würde sie im Feuer seines Atems bei lebendigem Leibe rösten, sie verschlingen, ohne überhaupt zu bemerken, dass er ein Leben ausgelöscht hatte. Juna war ein Nichts, nicht einmal ein Staubkorn am Wegesrand der Geschichte.
»Was willst du?« Arians Stimme hatte wahrscheinlich noch nie neutraler und gleichzeitig provozierender geklungen als bei diesen drei Worten.
Juna fragte sich, ob er Furcht verspürte. Falls es so war, gelang es ihm jedenfalls meisterhaft, sie zu verbergen.
Der Erzdämon warf ihm einen schnellen Blick zu, den man bei jedem anderen als amüsiert bezeichnet hätte. Er ließ die Hand sinken und musterte Juna anstelle einer Begrüßung gründlich, so dass sie sich wünschte, sie hätte ihm die Hand schütteln können, anstatt betrachtet zu werden wie eine Ware. Doch dann glaubte sie, ein Zucken in seinem rechten Mundwinkel zu sehen, und besann sich ihres Plans. Ungeachtet ihrer Todesangst, setzte sie alles auf eine Karte, hob das Kinn und starrte auf einen Punkt irgendwo hinter dem Dämon. Dabei griff sie nach Arians Hand. Wir stehen das gemeinsam durch!
Die Antwort war ein Lächeln, das wie ein warmer Hauch durch ihre Seele schwebte.
»Bezaubernd.« Er warf Arian einen kritischen Blick zu. »Was man von dir nicht behaupten kann.« Der Erzdämon drehte ihnen den Rücken zu und ging zum Fenster. »Komm zu mir, Kleines!«
Arian ließ ihre Hand nicht los.
»Nimm ihr nicht die Freiheit, nach der du dich so lange verzehrt hast. Erlaube ihr, eigene Entscheidungen zu treffen!«
Seine Stimme genügte, um bei Juna ein unkontrollierbares Zittern auszulösen. So viel zu meinem Mut! Sie bemühte sich, ruhiger zu werden. Nur wer in diesem Spiel einen kühlen Kopf behielt, hatte eine Chance.
»Siehst du, jetzt habe ich sie erschreckt!« Der Dämon drehte sich nicht einmal um. Sein wohldosierter, mitleidsvoller Ton sollte Juna möglicherweise in Sicherheit wiegen, bei Lucian löste er beinahe Panik aus. Er fauchte Arian kaum hörbar an. »Nun mach schon, oder willst du etwa, dass er sie holt?«
Arian wirkte wie versteinert, und als er endlich reagieren wollte, hatte Juna ihm die Entscheidung bereits abgenommen. Sie entzog ihre Hand seinem festen Griff und ging zu dem Dämon, wie er es befohlen hatte.
Er streckte den Arm nach ihr aus, aber Juna widerstand dem Instinkt, bis ans andere Ende der Welt zu fliehen, und blieb still stehen. Der Dämonenfürst rieb ihr Amulett zwischen den Fingerspitzen, bis das Metall plötzlich zu leuchten begann. Erst nur leicht, dann aber hell und einzigartig, wie der Polarstern in einer klaren Winternacht.
Er sah sie direkt an, und dieses Mal gab es kein Entrinnen.
»Die Frau Mama und Konsorten haben also ihren Claim schon abgesteckt. Sehr klug.«
Als er Junas ratloses Gesicht bemerkte, ließ er das Amulett los. »Zweifellos bist du klug genug, es nicht abzulegen.«
Wie zum Schutz, auch gegen ihn, legte sie ihre Hand darüber.
»Sieh her«, sagte er freundlich, als habe er diese Geste nicht bemerkt, und sah aus dem Fenster. »Dort draußen liegt mein Reich. Schau gut hin, damit du weißt, was es wirklich bedeutet, aus Elysium verstoßen worden zu sein.« Und was eben noch wie eine menschenleere Landschaft gewirkt hatte, wurde zum Purgatorium.
Boote setzten dunkle Gestalten über den breiten Fluss, der in der Ferne wie ein dunkles Band zwischen grünen Hügeln lag. Wie Schafe drängten sich die Reisenden während ihrer Überfahrt zusammen, manchmal
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