Fluegelschlag
Weggefährten hatte für ihn nur eine Deutung zugelassen: Gabriel musste im Kampf gegen die Dämonen unterlegen und von ihnen versklavt worden sein. Dass er nun frei und scheinbar unverändert vor ihm stand, beunruhigte Arian. War der Freund tatsächlich gefallen? Instinktiv wich er einen Schritt zurück.
Über Gabriels Gesicht huschte ein Schatten; gleichzeitig legte sich ein frostiger Schleier über den warmen Sommertag. Unbeeindruckt hob er beide Hände, als wollte er seine friedfertigen Absichten demonstrieren. »Sie hat dich also erwischt. Was ist passiert?« Mitgefühl schwang in seiner Stimme mit - etwas, das der Wächter Gabriel niemals gezeigt hätte.
»Warum schickt Nephthys niemanden?« Die Frage war so drängend, dass Arian sie ohne nachzudenken, wie aus alter Gewohnheit stellte. Danach hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Woher sollte ein gefallener Engel noch Einblick in die Pläne der Vigilie haben?
Es war nicht ungewöhnlich, dass einige Zeit verging, bis ein Vertreter der himmlischen Bürokratie auftauchte, um zur Erde gesandte Wächter-Engel mit allem auszustatten, was sie brauchten. Das konnte zuweilen etwas dauern: Die ehemalige Todesgöttin Nephthys, die den Befehl über alle Einsätze dieser Vigilie hatte, war nicht unumstritten. Es gab Kräfte, die sie und ihre Agenten in der Ausübung ihrer Pflichten zu behindern versuchten. Und damit meinte er keineswegs die Schergen Luzifers. Doch bisher hatte er immer früher oder später erhalten, was er benötigte.
In der Vergangenheit waren es Waffen oder ein Pferd gewesen. Die Zeiten änderten sich natürlich, und deshalb hatte man ihm in den letzten Jahren zusammen mit Hintergrundinformationen über seinen Einsatz auch Schlüssel zu einer Wohnung übergeben und - mit etwas Glück - sogar zu einem schnellen Auto.
Arian fand das nur fair, schließlich verfügten ihre Gegenspieler, die Dämonen, immer über die neueste Technologie und eigneten sich allen erdenklichen Luxus an, indem sie die ursprünglichen Besitzer unbekümmert versklavten oder einfach umbrachten. Keine Frage, dass Engeln diese Option nicht offenstand: Sie mussten mit dem zurechtkommen, was man ihnen an Unterstützung zugestand. Wie ungerecht ihm dies erschien, hatte Arian niemals offen gesagt. Ein Engel hinterfragte seine Berufung nicht.
Gabriel sah ihn durchdringend an, dann brach er sein
Schweigen. »Sie hat dir nichts gesagt? Ach, was frage ich? Natürlich überlässt sie die Drecksarbeit wieder einmal anderen.«
Arian war schockiert. Gabriel redete wie ein Dämon. »Was soll das heißen?«
»Nephthys wird dir keinen Boten schicken, nie wieder.« Er zeigte nach oben, wo sich lange Wolkenbänder über den Himmel spannten. »Die da oben werden in Zukunft nicht einmal erlauben, dass auch nur dein Schatten ihre weißen Roben berührt.«
Sekundenlang sah Arian Elysium vor sich. Die Ruhe, die Eleganz seiner Bewohner und das ewige Weiß. Zum ersten Mal in seiner gesamten Existenz fragte er sich, ob das Vorhandensein von Gefühlen, das ihn insgeheim immer ein wenig stolz gemacht hatte, nicht letztlich ein Fluch war. Warum sonst hätte ihn der Frieden im Elysium auf die Nerven gehen sollen?
Gabriel schwieg, doch er warf ihm einen Blick zu, in dem Arian Verständnis, ja Mitgefühl zu lesen glaubte.
Arian riss sich zusammen. »Und was ist mit den Schutzengeln?«
»Was soll damit sein?«
»Nephthys hat gesagt, sie würden verschwinden …«
»So, hat sie das? Nun, dann wird es wohl auch stimmen.« Gabriel schien nicht sehr beunruhigt. »Du bist jetzt ein Gefallener, mein Freund. Was interessiert es dich, was mit diesem nervtötenden Geflügel geschieht? Sie sind doch nur Menschen in einem anderen Aggregatzustand.« Er spuckte aus.
»Diese Frage kannst du nicht im Ernst stellen. Ohne ihren Einsatz wäre die Menschheit verloren. Warst du es
nicht, der mir das immer und immer wieder gepredigt hat?«
Ein zynischer Ausdruck erschien um Gabriels Mund. »Manchmal frage ich mich, ob ich es wirklich bedauern würde, wäre die Welt wieder menschenleer. In Hunderttausenden von Jahren hat keiner von uns so viel Schaden angerichtet wie diese jämmerliche Rasse in ein paar Jahrhunderten.« Er lachte. »Und dein Schutzengelproblem löste sich auch von selbst.«
»Ich kann nicht glauben, dass ich diese Diskussion mit dir führe. Von allen Engeln ausgerechnet mit dir!« Arian begann, auf und ab zu gehen. »Angenommen, du hättest Recht und mich ginge die Sache nichts mehr an -
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