Fluegelschlag
hatte er seine Zweifel. Bestimmt würde sie gleich nach seiner Wunde fragen und verlangen, danach zu sehen. Aber vielleicht wacht ja neuerdings auch ein Schutzengel über mich. Die Vorstellung war vollkommen absurd, doch er hätte schwören können, dass sie gerade den Mund öffnen wollte, um ihn zu einer Untersuchung zu drängen, als ihr Handy klingelte.
»Okay, ich komme!« Juna unterbrach die Verbindung. »Ein Notfall, ich muss fort …«
Sie wirkte unentschlossen, und Arian bot ohne zu überlegen an: »Kann ich etwas tun?«
»Ein roter Milan scheint verletzt zu sein. Die Tierrettung wollte ihn fangen, da ist er mit letzter Kraft auf einen Baum geflogen.« Juna lachte. »Könntest du zufällig fliegen, wärest du bestimmt eine große Hilfe!«
Arian widerstand der Versuchung. Für ihn wäre es ein Leichtes gewesen, ihr unsichtbar zu folgen und die arme Kreatur zu retten. Es würde sie glücklich machen. Seine Aufgabe jedoch war eine andere. Was bedeutete schon dieser kurze Augenblick der Euphorie im Seelenleben einer Sterblichen gegen seine Mission? Alles, flüsterte eine innere Stimme, doch er befahl ihr zu schweigen. »Hast du noch irgendwelche Brüder, die hier unvermutet auftauchen könnten?«
Ihr war anzusehen, wie verunsichert sie war. Natürlich, am Morgen hatte Juna ihn zwar allein im Haus zurückgelassen. Doch da hatte er auch noch schwer verletzt auf seinem provisorischen Krankenlager gelegen. Jetzt dagegen stand ein vitaler Mann neben ihr, von dem sie nicht wissen konnte, was er im Schilde führte.
Arian bot ihr einen Ausweg an. »Ich muss herausfinden, was mit mir geschehen ist. Ich habe da eine vage Erinnerung …«
Ihre Erleichterung wich rasch Besorgnis. »Ist das nicht leichtsinnig?«
Er zuckte mit der gesunden Schulter. »Vielleicht, aber irgendetwas muss ich tun. Ich weiß ja nicht einmal genau, wer ich eigentlich bin.«
Juna verstand ihn besser, als sie jemals zugeben durfte. Auch sie quälte die Frage nach ihrer Herkunft. Und natürlich hatte er Recht: Er musste herausfinden, was geschehen war, und in sein altes Leben zurückkehren. Vielleicht warteten irgendwo eine Frau und Kinder, krank vor Sorge um ihn. Sie legte ihm ihre Hand auf den Arm. »Sei vorsichtig.«
Bevor sie das Haus verließen, drückte sie ihm ein paar Scheine und etwas Kleingeld in die Hand. »Für den Bus.« Juna redete schnell weiter. »Gib es mir einfach später wieder. Und … bitte, mach dir keine Gedanken. Du kannst bei uns bleiben, bis du weißt, wohin du gehörst.«
Arian beobachtete, wie sie in ihr kleines Auto stieg. Gleich darauf schoss es aus der Parklücke zwischen zwei größeren Fahrzeugen hervor. Er sah ihr nach, bis sie in der nächsten Seitenstraße verschwunden war, dann ging er in die andere Richtung davon, und niemand sah, wie er mit dem Licht verschmolz und zu einem gloriosen Geschöpf wurde, dessen Anblick ebenso betörend wie tödlich sein konnte.
Wenig später landete er unbemerkt im Schatten eines alten Steinhauses und trat gleich darauf in seiner menschlichen Gestalt hervor. Mit diesem Ort fühlte sich Arian verbunden, denn hier hatte er das erste Mal als Engel britischen Boden betreten: Damals, als es noch keine Kirche gegeben hatte, lange bevor die Römer eine kleine Siedlung am Clyde gegründet hatten. Er schlenderte zwischen zwei Baumreihen über den gepflasterten Platz und blieb vor dem hohen Westeingang stehen. Es wäre ein Leichtes gewesen, in die Kirche hineinzugelangen, doch er hatte kein Interesse daran.
»Das wurde aber auch Zeit.«
Der Engel, der vor ihm erschien, als sei er durch eine verwunschene Pforte aus einer anderen Welt getreten, hatte seine Flügel vor Arian verborgen. Das dunkle Haar war kürzer, als er es in Erinnerung hatte, und fast schien es, als sähe er einen silbernen Hauch darin.
Äußerlich unterschieden sie sich auf den ersten Blick kaum voneinander. Doch wer genauer hinschaute, sah die Unterschiede. Arians Körper wirkte geschmeidig und biegsam wie der eines Leichtathleten, während der andere Mann schwerfälliger aussah. Doch dieser Eindruck hatte schon manchen Gegner das Leben gekostet. Arian kannte wenige geschicktere und ausdauerndere Kämpfer als ihn. Dennoch war er im letzten Jahr von einem geheimen Einzeleinsatz nicht mehr zurückgekehrt und ganz sicher der Letzte, den hier anzutreffen er vermutet hätte. Tatsächlich hatte er nicht einmal geglaubt, ihn überhaupt wiederzusehen.
»Gabriel!« Das plötzliche Verschwinden seines einstigen
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